𝟎𝟑

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Odesa
Düsseldorf
August 2022

»Ich werde nicht sprechen.« Genervt legt der Polizist sich seine Hand auf die Schläfe. Ich befinde mich in der Polizeiwache. Dieser Raum ist kahl und leblos. Der Stuhl auf dem ich sitze, ist mehr als nur unbequem. Und selbst im August ist es eiskalt hier drinnen. Seufzend reibe ich meine Hände warm. Eine Woche ist vergangen. Nachdem ich stillstarrend zugesehen habe, wie Agon mit seiner Tochter verschwand, habe ich meine Eltern angerufen. Sie haben mich sofort abgeholt und getröstet. Es ist soviel passiert und es hatte lange gedauert, bis ich die Ereignisse verdauen konnte. Es sind Menschen gestorben. Unwohl fahre ich mir über die Arme. Nächtelang habe ich um tote Seelen geweint. Seelen, die ich nicht einmal kannte und jetzt sitze ich hier, um über sie zu sprechen? Es fühlt sich falsch an, diese grausamen Erinnerungen zurückzuholen, um dann mit Indifferenz behandelt zu werden.

Ich bin erst seit gestern wieder zurück. Die Zeit, die ich bei meinen Eltern verbracht war kurz und das war auch gut so. Meine Mutter hatte darauf beharrt, dass ich länger bleiben soll, aber ich wollte nicht. »Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass Sie sich vor wenigen Minuten dazu bereit gestellt haben zu kooperieren.« Ich verdrehe meine Augen. Ich habe auch nach einem Glas Wasser gebeten, aber man kriegt nicht alles was man sich wünscht. »Das stimmt zwar, aber ...« Der Polizist wirft sein Stift auf den Tisch. Zähneknirschend seufze ich auf. Etwas Geduld würde ihm nicht schaden. »Solange es Herr Sulej ist mit dem ich spreche.«, erwidere ich mit zuckenden Augenlid. »Das ist wirklich kindisch.« Ich haue auf den Tisch.

»Kindisch? Haben Sie diese Menschen aus einer brennenden Bäckerei rausgezogen? Mussten Sie sehen, wie Menschen erschossen wurden? Wo waren Sie überhaupt? Wollen Sie mir weiß machen, dass niemand im Umkreis der Umgebung die Schüsse gehört hat?« Feuriger Atem verlässt meine Lippen. Meine laute Stimme hallt noch im Raum und der Polizist schweigt. »Sie waren viel zu spät! Hätte ich keine Lösung gefunden, dann wären es über ein Dutzend verbrannte Leichen, die auf dem Boden liegen würden. Dazu auch noch die eines Kindes. Also sagen Sie mir nicht, was kindisch ist und nicht. Machen Sie einmal ihre Arbeit richtig und schicken, verdammt nochmal, Herr Sulej zu mir.« Meine Hände zittern vor Wut. Für wenige Sekunden ist es still. Kindisch, dass ich nicht lache. Seufzend erhebt er sich. »Wie Sie es wünschen.« Ich nicke müde. Ich will doch nur meine Ruhe. Der Polizist verlässt den Raum und für die nächste halbe Stunde bin ich allein, gefangen in einer endlosen Schleife von Schüssen und schwarzem Rauch.

Die Tür öffnet sich. Ich starre auf den Tisch. Ich traue mich garnicht nach oben zu schauen. Ist das der Zeitpunkt? Ändert sich jetzt alles? Ich frage mich, wie es ihm geht. Wie es ihr geht. Wie er sich wohl verändert hat? An dem Tag, hatte ich nicht die Möglichkeit, ihn wirklich zu betrachten. Ich sollte mich nach einer Möglichkeit nicht einmal sehnen. Unmerklich schüttle ich den Kopf. Ist er genauso überrascht mich zusehen, wie ich es bin? Meine Fingerkuppen kribbeln. Warum bin ich so aufgeregt? Er ist es wahrscheinlich nicht. Ich atme tief ein. Das was ich tue, es ist nicht richtig. Es ist so, als ob mein Herz wieder im Körper der naiven sechzehnjährigen Odesa steckt. Seine Anwesenheit sollte mich nicht so aus der Fassung bringen und trotzdem traue ich mich nicht, meine Augen auf ihn zu legen. »Odesa.« Enttäuschung. Enttäuschung macht sich in mir breit und wütend beiße ich mir auf die Lippen. Ich blicke in pechschwarze Augen. »Adem.«, begrüße ich ihn räuspernd. Der große Mann lächelt mich sanft an.

Adem Sulej.

Er ist Kommissar, mittlerweile 26 Jahre alt und ledig. Dazu ist er noch Agon's älterer Bruder. Seine dunkelbraunen Haare sind nach hinten gekämmt und sein enges schwarzes T-Shirt spannt sich über seinen Bizeps. »Du bist nicht der, den ich erwartet habe.«, gebe ich zu. Adem's Augen funkeln leicht belustigt. »Mein Bruder ist beschäftigt.« Ich verkneife mir ein schnauben. »Natürlich ist er das.«, erwidere ich lediglich und Adem's Mundwinkel zucken. Es erinnert mich an ihn. Es ist fast schon lustig. Adem und Agon könnten nicht unterschiedlicher aussehen und sein, doch trotzdem findet man die Gemeinsamkeiten. Man merkt, dass sie Brüder sind. »Wie geht es dir?« Langsam setzt Adem sich vor mir hin und schaut mich eindringlich an. »Angemessen.«, presse ich zähneknirschend heraus. Es macht mich wütend, dass Agon mir aus dem Weg geht. Eine Sache die Adem weiß, aber gewissenhaft ignoriert. Ich kratze meine Wange. »Du bist gewachsen.« Adem's Art mir ein Kompliment zu schenken. Eine Röte bildet sich auf meinen Wangen.

TränenblindWhere stories live. Discover now