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Odesa
Düsseldorf
Dezember 2022

»Wie würdest du dieses Gefühl beschreiben?« Ich starre gegen die kahle weiße Wand vor mir. Dieser Raum ist so unfassbar eintönig. Es besitzt etwas maschinelles, leeres. Manche würden es als einsam betiteln. Vielleicht passe ich deswegen auch so perfekt hier rein. Vielleicht sollte dies mein Rückzugsort sein. Denn es ähnelt mir. Mein Blick schweift auf ein Gemälde, eine abstrakte Kunst mit bunten Farben. Es sieht aus wie eine Frau, welche sich wie ein Schmetterling in seinem Kokon versteckt. Damit es allein ist. Damit es beschützt und behütet bleibt. Vielleicht ist das hier mein persönliches Nimmerland. Solange ich hier drin bleibe, bleibt die Welt da draußen stehen. »Odesa?« Ich zucke heftig zusammen und blinzle schnell. Mein Blick fällt auf die ältere Frau vor mir. Sie ist in ihren Dreißigern, trägt eine gelbe Brille, ein roten Strickschal und ein gestreiften Pullover. Ihre gelockten mandelbraunen Haare stehen stumpf von ihrem Kopf ab. Meine Augen wandern über ihr Gesicht. Eine Sache, für die ich mich ständig warnen muss, ist nicht auf das große Muttermal auf ihrer Stirn zu achten. Vergeblich. »Hmm?«, frage ich abgelenkt.

»Passiert das öfters?« Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und verstecke mich etwas in meinem großen grünen Pullover. Das mache ich ständig, wenn eine ihrer Fragen mich leicht verunsichern. »Passiert was öfters?«, frage ich nach und kratze mir dabei an die Stirn. Dieselbe Stelle wo ihr Muttermal liegt. Oder ist es doch ein Leberfleck? Wie kann sie nicht versuchen dieses Ding auszukratzen? »Du verlierst dich in deinen Gedanken?« Meine Augen weiten sich für ein kurzen Moment. Ach ... das meint sie. Ich schüttle lächelnd den Kopf. »Das tue ich nicht, ich falle.« Neugierig überschlägt sie ihre Beine. Sie legt eine Hand auf ihren markanten Kinn und schreibt sich nebensächlich etwas auf.

»Fallen?«, hakt sie nach. »Ich falle in meine Gedanken.« Sie nickt verständlich und zieht ihren Schmollmund zusammen. »Interessant, wie kam es zu dieser Erkenntnis?« Wie ich falle? Es passiert relativ schnell. Es fing als Kind an. Meine Eltern waren viel beschäftigt und hatten nicht jede Sekunde freie Zeit, um mir und meinen relativ vielen Fragen zuzuhören. Also fing ich an meine Fragen selbst zu beantworten. Irgendwann fiel ich ständig. Man schenke mir nur ein kurzen Zeitraum von Ruhe und schon falle ich durch die hellsten Wolken. Wenn meine Eltern sich gestritten haben, was nicht wirklich selten passiert ist und ich dieses Gebrülle nicht mehr aushalten konnte, dann fiel ich auch. Früher konnte ich es kontrollieren, doch mit den Jahren fand es sein Eigenleben. »Adem hat es so genannt. Meine Eltern haben mich immer deswegen geärgert. Eigentlich haben mich alle immer deswegen geärgert. Früher hatte ich mich auch dafür geschämt, aber sobald es seinen eigenen Namen bekam, hat es sich als etwas Besonderes angefühlt.«, rattere ich nervös runter.

Sie betrachtet mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck. »Adem? Das ist der Bruder von Agon, stimmt's?« Ich nicke langsam. Wieder einmal schreibt sie sich eine Kleinigkeit auf und kratzt sich anschließend an der Nase. »Du sprichst gerne von ihm.« Ich nicke erneut und sie leckt sich über die Lippen. »Über Agon hast du aber kein Wort verloren.« Unwohl verschränke ich meine Arme. »Hab ich wohl.«, entgegne ich zähneknirschend. Für ein kurzen Moment blickt sie mich an und schreibt sich anschließend wieder etwas auf. Das macht diese Frau ständig. »Eine Frage, würdest du lieber über Abdul oder Agon sprechen?« Diese raffinierte kleine Hexe. Ich zucke mit den Achseln. »Ich weiß nicht, warum ich über einen der Beiden sprechen sollte.«, erwidere ich patzig. Sie seufzt. »Odesa, mir ist sehr wichtig, dass du dich wohlfühlst. Es war ein sehr großer Schritt, als du dich mir gegenüber Abdul geöffnet hast. Wir werden nur dann über etwas sprechen, wenn du dafür bereit bist. Jedoch können wir nicht jede Sitzung darüber reden, wie man den besten Croissant Teig hinbekommt.« Unwohl streife ich mir über die Arme. Sie hat recht, aber ... Ich schüttle heftig den Kopf. »Bitte nicht jetzt.« Ich zittere. Wann habe ich angefangen zu zittern? Ich drücke meine Hände fest auf meinen Oberschenkel und sie schreibt sich wieder etwas auf.

TränenblindWhere stories live. Discover now