𝟎𝟒

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Odesa
Dortmund
Dezember 2015

»Du triffst dich wieder mit ihm? Warum hast du nie Zeit für mich?« Ich seufze. »Das stimmt doch garnicht! Ich verbringe mehr Zeit mit dir, als mit ihm, Yara.« Keine Antwort. »Wir waren noch gestern zusammen Eislaufen!«, setze ich nach. Sie brummt unzufrieden. Yara war schon immer ziemlich stur, aber das mochte ich an ihr. Ihre feurige Ader hatte etwas beneidenswertes. Ich hatte nie den Mut, so offen zu sein wie sie. Aber andererseits war ich froh, dass wir nicht komplett gleich waren. Wäre doch langweilig ... oder nicht? »Trotzdem!« Ich verdrehe meine Augen. Irgendwas stimmt nicht mit ihr. Ich fahre mit meinen Fingerkuppen über mein Kissen und beiße mir nachdenklich auf die Lippen. »Wir können doch die Tage etwas miteinander machen.« Yara seufzt. »Freitag?«, fragt sie mich und ich zische auf. Nervös kratze ich mich am Nacken. »Am Freitag kriege ich Besuch.«, murmle ich. Yara stöhnt genervt auf. »Lass mich raten, seine Mutter?« Ich beiße mir schuldig auf die Lippen.

Agon's und meine Mutter sind ziemlich gute Freunde. Oft gehen sie miteinander aus. Wenn Agon's Mutter uns aber besucht, dann nimmt sie nur Adem mit. Agon kommt nie mit. Mehrere Male hat es mich enttäuscht, doch es ist wahrscheinlich besser so. Ich könnte meine Emotionen nicht verstecken. Trotzdem wünsche ich es mir, dass meine Eltern ihn einmal kennenlernen. Meine Eltern wissen nichts über ihn und seine Mutter weiß auch nichts über mich. »Egal, ich leg jetzt auf.« Yara seufzt. »Nein, wirklich! Wir finden ein gemeinsamen Tag.«, flehe ich. Sie murmelt etwas unverständliches. Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. »Worum geht es hier wirklich? Du willst dich doch sonst auch nicht so oft treffen.« Yara schnalzt mit der Zunge. »Was soll das denn jetzt heißen?«, blafft sie und ich seufze. »Es ist nicht böse gemeint, Yara. Was liegt dir auf dem Herzen?«, frage ich sanft. Keine Antwort. »Yara?«, hake ich nach. Es herrscht kurz Stille. »Nichts.« Ich verenge meine Augen. »Sicher?«, hake ich wiederholt nach. Sie seufzt. »Ich will nur nicht, dass du mich vergisst.« Woher kommt das denn? »Du bist meine beste Freundin, Yara. Kein Junge auf dieser Welt wird das jemals ändern.« Sie murmelt leise vor sich hin. »Versprochen?«, fragt sie leise. Gerade will ich ihr antworten, doch ich werde unterbrochen.

»Odesa!«, ruft meine Mutter mich und eilig verabschiede ich mich von Yara. »Ja?«, frage ich laut. Keine Antwort. Genervt seufze ich auf und lege meine Decke beiseite. »Mami?«, rufe ich erneut. Wieder Stille. Warum sind Eltern so? Mit einem lauten Puff lasse ich mich wieder auf meinem Bett fallen. Ich ziehe die Decke wieder zu mir und möchte gerade wieder Yara anrufen, da ruft meine Mutter erneut nach mir. Ich stöhne genervt auf und schimpfe leise vor mich hin. Ich eile die Treppen runter und betrachte meine gestresste Mutter. »Was machst du?«, frage ich. »Pite. Kannst du bitte ein paar Tomaten schneiden?« Ich nicke und wasche mir die Hände. »Wo ist Babi?«, frage ich neugierig. »Auf der Arbeit.«, antwortet meine Mutter stumpf. Sie hat schlechte Laune. Meine Augen landen auf die teuren Servietten. »Kriegen wir Besuch?« Meine Mutter schnalzt. Das bedeutet nichts gutes. »Deine Oma vermisst dich.«, erwidert sie lediglich. Mami hasst ihre Schwiegermutter. Sie hasst alle aus Babi's Familie. Ich kann es ihr nicht wirklich übel nehmen. Manchmal wirkt es so, als hätten alle etwas gegen Mami.

Als Kind hatte ich die hasserfüllten Blicke meiner Familie gegenüber meiner Mutter nicht hinterfragt, aber heute kann man es nicht anders deuten. Meiner Mutter leidet still. Sie muss, ein anderen Weg gibt es nicht. Keiner würde ihr Leid auch nur ansatzweise ernst nehmen. Erstrecht nicht Babi. Meine Vater ist einer von ihnen. Selbst ich war einer von ihnen, doch ich besaß das Privileg daraus hinaus zu wachsen. Jetzt leiden meine Mutter und ich zusammen. Wir sind beide still. »Hier.« Ich reiche ihr die Tomaten und sie bestreut sie mit etwas Salz. Anschließend stellt sie die auf einem Teller und befiehlt mir, diesen Teller auf den Tisch zustellen. Sie verhält sich komisch. Ich frage mich, ob meine Eltern sich wieder gestritten haben. Oder liegt es an der Arbeit? Sie zu fragen traue ich mich nicht. Es sollte mich nicht wundern. Es ist nichts neues. Wir alle leben in diesem trostlosen Gebäude und nennen es unser Zuhause. Dabei ist unser eigentliches Zuhause zwischen den Herzen der Menschen, wo nur die Liebe uns heimführen kann.

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