𝟏𝟕

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Agon
Düsseldorf
Oktober 2022

Eine Viertelstunde.

Es hat eine Viertelstunde gedauert, bis der erste Anruf die Polizeizentrale erreicht hat. Es wurde eine Ruhestörung gemeldet. Wenige Minuten später kam ein weiterer Anruf. Man würde Schreie beim Nachbarn hören. Qualvolle Schreie, sehnsüchtige Rufe nach Hilfe. Und nicht einmal fünf Minuten später, werde ich auch schon benachrichtigt. Adem riss mich aus meinem Schlaf. "Agon, es geht um Odesa." Innerhalb sieben Minuten kam ich am Tatort an und nach vier Minuten kam auch schon der Krankenwagen. Ich fahre mir seufzend übers Gesicht. Adem war bis eben noch am Tatort, müsste aber nun auf den Weg zum Krankenhaus sein. Ich sehe für ein kurzen Moment auf mein Handy. Keine neuen Nachrichten.

Adem sollte mich schon vor einer Viertelstunde anrufen. Mein Blick hadert auf das getrocknete Blut an meinen Fingern. Ihr Blut. Ich balle meine Hände zu Fäusten und spanne mich augenblicklich an. Als ich die Tür eingetreten habe, war dieser Hurensohn schon weg. Ich beiße fest meine Zähne zusammen. Ich kriege dieses Bild nicht aus meinem Kopf. Ich schließe tiefeinatmend die Augen. Sie lag verletzlich und halbnackt auf den Boden. Sie war verfickt nochmal bewusstlos und blutverschmiert. Meine Arme fühlen sich schwerelos an und erinnern sich an das Gefühl von ihrem zierlichen Körper an meiner Brust. Es erinnert mich an ihr Blut was auf meinen Händen klebt und ihre Schmerzen, die sie in mir gebrandmarkt hat. Verflucht hat mich dieser Anblick. Mein ganzer Körper zittert vor Wut. Ab den Moment, wo seine dreckigen Finger ihre reine Seele beschmutzten, habe ich mein eigenes Versprechen gebrochen. Er hat sein Todesurteil unterschrieben, als er sie das erste Mal betrachtet hat.

Und Gott soll mein Zeuge sein, wenn ich der Grund für sein letzten Atemzug bin.

Ich warte schon seit über einer halben Stunde in diesem verfickten Gang. Kein einziger Arzt und keine einzige Krankenschwester möchte mir weitere Informationen geben. Jedes Mal hieße es "Ihr zugewiesener Arzt wird Sie noch informieren." Ich schüttle unmerklich meinen Kopf. Kann dieses verfickte Krankenhaus überhaupt was? Ich werfe altes Papier in den Mülleimer neben mir und spreize meine Finger um etwas Druck abzulassen. Wie konnte er mir entkommen? Er findet den Tod für jede Sekunde, in der er in ihrer Nähe geatmet hat. Ich beiße mir auf die Lippen und schmecke mein eigenes Blut. Ich reibe fest meine Augen zusammen. Wie konnte sie mir entgehen? Sie ist zu mir gekommen und hat mir ihre Angst gebeichtet.

Sie hat mich gewarnt und ich habe es nicht bemerkt. Ihre Angst und ihr Verhalten. Dieser Blick in ihren Augen. Es erinnerte mich an etwas von früher. Nour hatte denselben Blick. Meine Mutter und Yara auch. Mir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass da etwas faul ist. Warum hat sie sich nicht mir geöffnet? Ich schnalze missbilligend mit der Zunge. Warum sollte sie. Ich habe ihr kein Grund dafür gegeben Sicherheit bei mir zu suchen. Ich wollte ihr kein Grund geben. Und jetzt stehe ich mitten im Krankenhaus mit ihren Blut an meinen Händen. Das ist nicht das, was ich mir selbst versprochen habe. Ein Versprechen, wo ich dachte ich würde es niemals brechen. Der heutige Tag zeigt aber, dass jedes Versprechen irgendwann bricht. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich hätte früher da sein sollen. Ich hätte— Ich muss hier raus.

Ich schließe seufzend meine Augen. Er hat es geschafft in wenigen Minuten zu fliehen. Er hat sie, wie eine nutzlose Leiche liegen gelassen. Ich war derjenige, der sie in Zivilkleidung rausgetragen hat und mit ihr zum Krankenhaus gefahren ist. Mark hat es nicht rechtzeitig zum Tatort geschafft, Adem jedoch schon. Ich werde höchstwahrscheinlich suspendiert. Ich war nicht im Dienst und habe die Anweisung bewusst ignoriert. Das wird Adem nicht gefallen. Nachdenklich ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. Durch Baran weiß ich, dass Adem den Fall noch nicht zurückbekommen hat. Warum dieser Fall in erster Linie von ihm entnommen wurde ist mir bis heute ein Rätsel. Irgendwas stimmt bei dieser ganzen Sache nicht. Es ist zu persönlich und zu plötzlich. Es gibt etwas, was sie uns verschwiegen hat. Ihre plötzliche Angst vor dem Tod und ihre penetrante Bitte nach Vergebung war ein Hilferuf. Ein Hilferuf, den ich gewissenhaft ignoriert habe.

TränenblindWhere stories live. Discover now