𝟏𝟖

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Odesa
Düsseldorf
November 2022

»Es tut mir unfassbar leid!« Khadijah's Arme legen sich augenblicklich um meinen Hals. Ich stöhne schmerzvoll auf, da ihr Ellbogen gegen meine Rippe drückt. »Nicht so fest!«, zische ich auf und sofort löst sie sich von mir. Besorgt blinzelnd sie mich an. »Sorry!« Khadijah verzieht schuldig ihr Gesicht und ich winke lächelnd ab. »Halb so wild.«, murmle ich und setze mich aufrecht hin. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht das Khadijah auftauchen würde. Ich dachte sie wäre immer noch sauer auf mich. Khadijah beißt sich nachdenklich auf die Lippen und beäugt mich besorgt. »Ich war dumm und stur. Das was ich gesagt habe, ich habe es nicht so gemeint.« Ich seufze und lehne mich zurück. »Ich wollte mich viel früher bei dir melden, es ist nur—« Sie unterbricht mich. »Ich weiß.« Ich wünschte sie würde mich nicht mit diesem Blick anschauen, als wäre ich so zerbrechlich. So ... kaputt. Ich kann es nicht ertragen. »Vergeben und vergessen.«, antworte ich mit einem erzwungenen Lächeln. Khadijah verschränkt unsere Hände und lächelt mich aufmunternd an. »Die Ärzte meinten du darfst heute gehen?« Ich nicke bestätigend. Eine Gänsehaut ziert meinen Körper und Unbehagen schleicht sich in meinem Kopf.

Ich will nicht zu diesem Ort. Der Gedanke daran zu diesem Ort zurückzukehren ist angsteinflößend. Die Wände sind gestrichen mit dem Blut der toten Seelen. Die blutige Farbe ist im kahlen Rotlicht eine Schattierung für böse Geister, welche mich schluchzend heimsuchen. Sie ziehen an meinen Haaren, kratzen an meiner Haut und schreien Flüche in mein Ohr. Dieser Ort lebt von Hass und Brutalität und ähnelt einem Höllenfeuer. In kleinen Flammen brennt meine Haut und zerschmelzt in blutlose Tropfen, welche anschließend aus meinen Augen kullern. Ich bin gefangen von Schattengestalten, von gesichtlosen Kreaturen welche einst Mal arme Seelen waren. Die Grausamkeit hat seinen Namen auf meiner Haut unterschrieben. Ich schließe meine Augen. Der Ort, an dem ich mich am sichersten fühlen sollte, wurde zu dem Ort, welchen ich am meisten verabscheue. Die einzige Art, wie ich diese Wohnung jemals wieder betreten werde, ist wenn man meine kalte Leiche hineinträgt

»Sie wollten mich nur für eine Nacht zur Beobachtung behalten.«, erwidere ich leise und Khadijah nickt verständlich. Ich werde heute entlassen und ich weiß nicht, wohin ich soll. Ich bin verzweifelt, verwirrt und verängstigt. Was wird nun aus mir? Wo bin ich überhaupt noch sicher? Wenn er noch da draußen ist, was versichert mir, dass der Tod mich nicht mehr einholen wird? Es sollte das Ende sein, aber es ist nur der Anfang von etwas, wovon ich nicht weiß ob ich es verkraften kann. »Odesa?« Vorsicht blinzelt Khadijah mich an. Ich starre gegen die Wand und antworte ihr nicht. Wie kann es überhaupt sein, dass sie hier ist? Für ein kurzen Moment herrscht eine unangenehme Stille. »Woher weißt du überhaupt ... ?«, frage ich. Sie streicht sich eine Strähne hinters Ohr. »Adem hat mich angerufen. Wie er an meine Nummer rankam, dass weiß ich auch nicht.« Meine Augen weiten sich. Adem? Warum hat er sie angerufen? Wie kommt er überhaupt an ihre Nummer? Unwohl fährt sie sich übers Gesicht. Langsam räuspere ich mich. »Aber—« Gerade möchte ich etwas sagen, da fällt sie mir ins Wort. Ihr Gesicht verdunkelt sich. »Er hat dich gerettet.«

Agon. Agon. Ein Mann gefangen in einem endlosen Gewitter, ohne zu wissen, dass hinter Wolken und Regen ein endloser Sommer auf ihn wartet. Ich dachte, er hätte das Licht in ihm verloren. Ich war mir sicher, dass der Krieg ihn getötet hat, dass die Schlacht in seiner Seele ihn eingenommen hat. Unbändige Gewalt in seine Haut eingezeichnet hat. Ich war überzeugt davon, dass seine sanfte Haut von Eiszapfen umgeben ist. Überzeugt, dass er Feuer und Blut spuckt. Doch er hat mir bewiesen, dass ich erblindet war, dass nicht mein Herz, sondern meine Augen das Problem war. Wie kann es sein, dass ich den weichen Kern unter der harten Schale erst spüren konnte, als meine Augen geschlossen waren? Mein Herz flattert wie ein sorgloser Schmetterling, auf der Suche nach Glück im warmen Sommerregen. Eine Gänsehaut legt sich auf meinen Armen. Das Gefühl von seinen rauen Händen an meinen weichen Wangen. Kein Engel hätte mir jemals diese Zärtlichkeit ins Ohr zuflüstern können. Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, aber meine Tränen wurden wieder gestohlen.

TränenblindWhere stories live. Discover now