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Odesa
Düsseldorf
Dezember 2022

Diesmal wache ich von einem stillen Albtraum auf. Ich musste nicht schreien und doch spüre ich den Schweiß am ganzen Körper. Mein Hals ist sehr trocken und kratzt unwohl. Es war nicht anders zu erwarten. Immerhin befinde ich mich auf einem fremden Bett und das nachdem ich mich so gut auf dem von Agon eingelebt hat. Es ist fast schon eine Schande. Ich dachte ich wäre die Albträume losgeworden. Einerseits bin ich das auch. Von dem Vorfall in meiner Wohnung träume ich nicht mehr. Nein, diesmal träume ich von einem Autounfall. Ein Autounfall, welcher hätte ganz schlimm ausgehen können. Es ist ein wahrhaftiges Wunder, dass wir nicht ein Kratzer abbekommen haben. Naja. Von Agon's Auto kann man das nicht sagen. Seine schöne G-Klasse ist komplett zerstört. Doch das hatte ihn wenig interessiert. Eine leichte Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen. Wir wurden tatsächlich verfolgt. Es kam so plötzlich ... so unerwartet. Für mich jedenfalls. Und trotzdem frage ich mich, wie konnte ich es nicht kommen sehen?

Ich meine, ist es nicht immer so? Gerade da, wo du denkst es geht alles Berg auf, genau da stellt dir das Schicksal ein Stein in den Weg. Doch kann man das ein Stein nennen? Denn es fühlt sich so an, als wären wir knapp dem Tod entkommen. Agon, Dea und ich landeten an diesem Tag in der Notaufnahme. Er bestand darauf, dass Dea und ich abgecheckt werden. Er selber wollte sich nicht untersuchen lassen. Ich wollte ihm widersprechen, doch es kam kein einziges Wort über meine Lippen. Ich war zu schwach. Der Unfall hat mir meine letzte Kraft geraubt. Es hatte nicht lange gedauert, bis Adem dazu kam. Für ein Fremden würde Adem furchtlos wirken. Doch ich sah die Angst in seinen Augen. Die Last, die auf seinen Schultern saß. Die Erleichterung. Nach langer Diskussion zwischen den zwei Halbbrüdern gab Agon sich auch geschlagen. Nach der Untersuchung stand fest, dass Agon mit der schwersten und doch so ... einfachsten Verletzung rauskam. Denn sein ganzer linker Arm ist geprellt. Nach einem Tag hatte er aber sein Verband schon wieder abgenommen. Verletzlichkeit fällt diesem Mann wohl schwer.

Seit einer Woche wohnen wir in Adem's geräumigen Wohnung. Ein lebloser Ort ohne farblicher Dekorationen oder Sentimentalität. Agon empfand das Haus für zu ... unsicher. Ich habe durch die Wände ein Gespräch der beiden Brüder mitbekommen. "Wenn sie uns von der Schule nachhause folgen wollten, dann sind sie uns schon von dem Hinweg aus auf dem Fersen gewesen." Es bedeutet nichts anderes, als dass Agon nicht dieses Haus betreten wird, bevor er sich nicht sicher ist, dass sich da keiner versteckten Kameras oder Mikrofone aufhalten. Er möchte erneute Alarmanlagen und Sicherheitssysteme im Haus einbauen. Sie haben über die Umplanung des Dachbodens gesprochen. Es klang sehr geheim, sehr polizeilich. Zwar finde ich diese Maßnahmen wichtig und doch fühle ich mich hier äußerst Fehl am Platz. Ich bin kein Teil dieser Familie und trotzdem werde ich beschützt wie eins. Adem schläft immerhin wegen mir auf der Couch. Während Dea und Agon sich in Adem's Schlafzimmer eingenistet haben.

Ich drehe mich leicht zur Seite und schaue auf mein Handy. 2:06 Uhr. Natürlich! Ausgerechnet jetzt bin ich hellwach in einer Wohnung in der es mucksmäuschenstill ist. In Agon's Haus hört man wenigstens das Pfeifen des Windes. Dies schlummert mich immer wieder in den Schlaf rein. Doch der Wind erinnert sich nicht mehr an sein Lied und meine Träume treten gegen den Schlaf im Kampf an. Ich stelle meine Füße leise auf den Boden und stehe anschließend auf. Ich möchte Adem nicht wecken, daher laufe ich in Zehenspitzen aus dem Zimmer raus. Ich möchte eigentlich nur etwas trinken. Ein Glas Wasser oder noch besser ein beruhigenden Tee und ich bin auch kurz davor. Ich sehe schon das dämmernde Licht in der kleinen Küche, würde mich nur nicht der Schatten zu sich zurückziehen. Denn meine Augen bleiben stehen. Sie haften sich an die Silhouette einer bestimmten Person. Eines altbekannten Mannes. Ich sehe Agon, wie er auf einem Stuhl gebeugt und mit der Faust gegen der Stirn sitzt. Seine Augen liegen auf seiner schlafenden Tochter und das Mondlicht schenkt mir die Sicht auf seine hellen grünen Augen.

TränenblindWhere stories live. Discover now