𝟐𝟕

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Agon
Dortmund
April 2014

Ich fühle mich seltsam. Als wäre eine Last von meinen Schultern gefallen. Merkwürdig. Ich fühle mich merkwürdig. Als wäre ich befreit. Ist es die Verwirrung? Bin ich verwirrt? Verwirrt darüber, was richtig und falsch ist. Eine Schande, dass keine Träne es ans Licht geschaffen hat. Eine Schande für die Familie Sulej. Eine Schande für meine Mutter. Für meinen Bruder, doch für mich ein Segen. Der Regen hat alle Sünden weggewaschen und nun bleibt nur noch die Reue übrig. Doch ich spüre keine Reue. Nicht mehr. Nie wieder. Ich bin schwerelos. Schwebend über alle Leichen, die noch hier liegen. Erleichterung. Ich bin erleichtert. Ich bin froh darüber, dass der Tod ihn mitgenommen hat und ich bin stolz auf den Täter, welcher sein Leben genommen hat.

Wenn dein eigenes Zuhause zum Tatort wird, dann suchst du nicht nach Schlaf. Es hat eine Weile gedauert, bis ich es verstanden habe. Ich spüre Regentropfen auf meinem Gesicht, welches ich dem Himmel richte. Es ist die falsche Richtung, falls ich meinen eigene Vater anblicken möchte und doch ziehen mich die Wolken an. Ich krame in meiner Hosentasche nach einer Zigarette. Meine Narben streifen an dem rauen Material meiner blauen Jeans. Ich lege schützend eine Hand um meine Flamme und setze die Zigarette an meinem Mundwinkel. Erleichterung. Auf der anderen Seite der Straße steht der Hauptkommissar. Ein älterer Mann aus deutscher Herkunft mit braunen Haaren und blauen Augen. Er ist ein Hurensohn. Die grauen Wolken ziehen sich über den Himmel zusammen. Mein Blick fällt auf meine Mutter, welche außerordentlich ruhig wirkt. Dabei ist ihr Ehemann gerade mal vor wenigen Tagen ermordet wurden. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die Täterin war. Mein Mundwinkel zuckt hoch. Nur Gott weiß, wie ich nicht zum Täter wurde.

Schweiß sammelt sich unter meinen Achseln an. Wann war ich das letze mal duschen? Der Tatverdächtige wurde aber gefunden, gerade mal vier Tage nach der Tat. Ich schnaube leicht auf. So schnell hätte ich mich nicht erwischen lassen. Wäre ich der Täter gewesen, dann hätte ich nicht meine Tatwaffe im Vorgarten versteckt. Wer tötet auch jemanden mit einem Baseballschläger, welches seine eigene Tochter als Zauberstab benutzt hat, als sie dachte, dass sie eine Fee ist? Ja, es ist lächerlich und doch steht es fest. Das Blut meines Vater's klebt an diesem Baseballschläger. An einem anderen Tag hätte ich nach einer Signierung gefragt, aber nicht an dem Tag wo mein Nachbar wegen Mordes verhaftet wird. Die Tat wundert mich nicht. Meine Vater hat es kommen gesehen.

Wenn du dein ganzes Geld für Drogen wegwirfst und für Glücksspiele verzockst, dann verlierst du schnell das Gefühl von Zeit und Wert. Mein Vater hat sich das Geld genommen, als hätte er es brav angepflanzt. Er nahm aus der Hand von jemanden, der nicht viel hatte und starb an derselben Hand. Es ist ein mokantes Spiel von Karma. Irgendwo bin ich eifersüchtig. Ich kann es einsehen. Der alte Knacker von nebenan hatte mehr Mumm, als ich es in meinem ganzen Leben hatte. Ich reibe kleine Kreise auf meine Brust. Die Polizeibeamten treten aus dem Wohngebäude aus. Sie halten den Täter in ihrer Gefangenschaft. Mit dem Kopf gebeugt und dem Blick vor Tränen verschwommen blickt er zu Boden. Ich schnalze mit der Zunge. Er kann stolz auf sich sein. Er hat das gemacht, was nur ein wahrer Mann schafft. Ich nehme ein letzten Zug meiner Zigarette und werfe diese zu Boden. Sie fällt in Matsch und ihr Feuer erlöscht so schnell, wie dass was mich über fünfzehn Jahre verfolgt hat.

Es ist mein Bruder, welcher eingekrümmt an der Schulter seiner eigenen Mutter hängt. Mit tiefschattigen Augen, wenig Kraft an den Händen und müden Beinen. Es scheint ihm wohl zu schaffen machen. Ein Elternteil weniger, welcher ihn vergöttert und an der Spitze des Berges stellt. Wie ein kleiner Junge versteckt er sich hinter der Brust seiner Mutter. Hinter ihm steht sein elender Beschützer, Ali. Wie ich ihn nicht ausstehen kann. Es ist erbärmlich mitanzusehen. Ist das sein Versuch ein Vaterersatz zu finden? Was erwartet er? Dass man ihm den Kopf streichelt und sein Beileid ausspricht. Er soll sich verfickt nochmal zusammenreißen. Der Tod hatte ihn eingeladen bevor der Mord ihn begrüßen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit. Seine Trauer ist bedingt, denn ein so intelligenter Junge, welcher das Gesicht meines älteren Bruders trägt, sollte dies am besten wissen. Aber nein, seine Augen schauen zu Boden. Sie graben sich unter der Erde, um die Augen seines Vaters das letzte Mal zusehen.

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