Kapitel 1 - Der Umzug

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Olivia

„Wir hatten es hier doch schön! Ich verstehe nicht, warum wir wieder umziehen müssen." Wütend schmiss ich meine Kleidung in einen Koffer und diskutierte mit meiner Mutter. „Olivia! Hör auf zu meckern und pack deine Sachen. Wir sind hier einfach nicht mehr sicher." Ich rollte mit den Augen und klappte den großen schwarzen Koffer zu. „Aber wovor denn nicht sicher? Seit Papas Tod siehst du überall Gespenster. Kannst du mir nicht einmal die Wahrheit sagen?" Ich lief zwischen meinem Zimmer und dem Bad hin und her, um die restlichen Sachen zu verstauen. „Versteh doch, dass ich dich nur schützen möchte! Und je weniger du weißt, desto besser." Ich konnte es nicht mehr hören. Jedes Mal die gleiche Leier. >Ich will dich beschützen bla<, >Das geht dich nichts an bla bla<, >Du bist noch zu jung bla bla bla<. „Verdammt! Ich bin 21 Jahre und kein kleines Kind mehr! Ich kann auf mich selber aufpassen. Versteh DU das doch endlich!" Ich lief in meinem Zimmer umher und sah ein letztes Mal in alle Schränke und Kommoden, ob ich auch nichts vergessen hatte. „Olivia James Walker!" Sie stand jetzt direkt vor meinem Zimmer und atmete frustriert aus, ehe sie die Augen schloss und dann mit einem ruhigeren Ton fortfuhr. „Du hast keine Ahnung was dort draußen alles lauert und das ist auch gut so. Es gibt zu viele Menschen, die anderen was böses möchten. Die dir etwas böses möchten."

Doch diese Annahme ihrerseits war falsch. Sogar mehr als das, denn ich wusste genau, was dort draußen alles lauerte. Ich wusste alles. Alles, vor dem mich meine Mutter beschützen wollte. Ich wusste, dass Werwölfe existierten und sie unter uns lebten. Ich wusste auch, dass mein Vater von ihnen verschleppt und wahrscheinlich getötet wurde. Ich wusste so einiges über diese abscheuliche Spezies oder zu mindestens all das, was in den Büchern zu finden war. Ich drehte mich mit verschränkten Armen um. „Aber .." Doch sie ließ mich nicht aussprechen. „Ich diskutiere nicht mit dir! Pack deine Sachen und verstau sie dann im Auto. In einer Stunde fahren wir." Diese Frau ließ keinen Platz für Widerworte. Ich schnaufte frustriert aus und nahm mir die erste Kiste, um sie in den Kofferraum zu stellen. Da wir schon des Öfteren umgezogen sind, gibt es auch nicht mehr allzu viele Dinge, die ich immer wieder mitnehmen muss und da unser Auto auch nicht unbegrenzt Platz hat, muss man sich eben entscheiden. Und genau das habe ich vor drei Jahren getan. In dieser Zeit bin ich volljährig geworden und wollte mehr von der Welt da draußen sehen und erleben. Also habe ich mich jeden Tag rausgeschlichen und bin in eine Bücherei gegangen. Dort habe ich dann meine Leidenschaft für das Lesen entdeckt, dementsprechend sind meine Bücher das wichtigste für mich.

Nachdem ich also alle Kartons nach unten gebracht und in das Auto geladen hatte, lief ich noch ein letztes Mal in mein Zimmer. Ich sah mich in dem nun leeren Raum um, genoss ein letztes Mal den Blick in den tiefgrünen Wald, ehe ich mich umdrehte und die Tür verschloss. Ich lief die Treppen nach unten und half meiner Mutter den Proviant in einem Korb zu verstauen. Anschließend gingen wir zum Auto und schenkten unserer kleinen Waldhütte den letzten Blick, ehe wir auch dieses Zuhause hinter uns ließen. Doch um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht mehr, was ein wirkliches Zuhause ist. Seit fünfzehn Jahren blieben wir nie länger als ein paar Jahre an einem Ort. Das war auch der Grund, wieso mich meine Mutter Zuhause unterrichtet hat. Demnach konnte ich nie richtige Freunde finden, bis auf eine. Sie hieß Lissy und wohnte bis vor ein paar Monaten auch noch hier. Wir trafen uns fast jeden Tag in der alten Bücherei oder in einem Buchladen. Durch sie wurde ich auch auf die Lykanthropie aufmerksam. Sie erzählte mir von ihrer älteren Schwester Lisa, die ich ein paar Mal gesehen hatte und welche irgendwann ganz plötzlich verschwunden ist. Es gab keine Spur von ihr und auch die Suchtrupps konnten nichts finden, was auf ein Verbrechen deutete. Während ihre Eltern diesen Verlust totschwiegen, war Lissy der festen Überzeugung, Werwölfe hätten ihre Schwester verschleppt und sie zu einer der ihren gemacht.

Nach meinen Recherchen zufolge ist das zwar nicht möglich, dennoch kann ich mir anhand der Erzählungen mehr als gut vorstellen, was mit ihr geschehen ist. In vielen Büchern heißt es, dass die Frauen gezwungen werden, die Welpen auszutragen, um den Fortbestand zu sichern. Dabei sei es üblich, wenn es nicht genug Frauen gibt, dass sich die Männer eine solche teilen müssen. Ich kann und möchte mir gar nicht vorstellen, wie das für die Betroffenen sein muss. In ständiger Angst zu leben, gewaltsam geschwängert zu werden und dann noch ein Monster oder gleich mehrere austragen zu müssen, um danach gleich weiter gereicht zu werden. Ein schreckliches Schicksal. Während wir also die Bücherläden durchsuchten konnten wir mit der Zeit immer mehr in Erfahrung bringen. So auch, dass Werwölfe zumeist viel größer, aber auch muskulöser und demnach viel stärker als wir Menschen sind. Sie können Knochen so leicht brechen lassen, als wäre es nichts. Das ist auch der Grund, wieso ich großen, kräftig aussehenden Menschen lieber aus dem Weg gehe. Wer weiß, was denen in den Kopf kommt. Sie sollen wohl sehr impulsiv handeln und selten über ihre Taten und deren Konsequenzen nachdenken. Demnach werden sie zumeist als aggressiv und hitzig beschrieben, weswegen man sich nicht mit ihnen anlegen sollte. Aber am schlimmsten von allen soll der Alpha sein. Werwölfe leben nämlich in einer Hierarchie, welche niemals angezweifelt werden darf und wenn doch, wird das mit dem Tod bestraft.

An unterster Stelle stehen die Omegas. Sie sind die schwächsten im Rudel und dienen zumeist als Zielscheibe für die angestaute Wut im Rudel. Daher kommt es nicht selten vor, dass sich diese selbst das Leben nehmen oder abhauen und dann als Rudellose im Wald herumirren. Rudellose Wölfe werden nach einiger Zeit verrückt, so sagt man und krepieren im Wald, da sie ohne ihr Rudel nicht überleben können. Ich verstehe einfach nicht, wie man jemanden so etwas grausames antun kann. Und dass das auch noch geduldet wird, ist ja wohl die Krönung. Dabei ist der Alpha der Höchste Rang. Er führt das Rudel an und hat quasi das sagen und trotzdem scheint denen das egal zu sein, da sie ja nie in Frage gestellt werden. Also für mich sind das alles Barbaren. Aber gut, weiter in meiner Erzählung. Da einer allein aber niemals ausreicht, um ein Rudel zu führen, gibt es noch den Beta und Gamma. Der Beta ist der Stellvertreter des Alphas und unterstützt ihn als Berater oder vertritt ihn, falls dieser abkömmlich ist. Der Gamma hingegen kümmert sich meines Wissens um die Ausbildung der Truppen und Kämpfer. Sie sind sozusagen die Armee, welche das Rudel beschützen sollen. Außerdem leben sie alle gemeinsam an einem Ort, um sich keinen Gefahren auszusetzten und bei ihres gleichen zu sein. Dennoch arbeiten viele von ihnen in der Menschenwelt und geben sich als unseres Gleichen aus. All diese Informationen waren auch der Grund dafür, dass ich meine Affinität der Pflanzenwelt gegenüber entdeckt habe. Lissy und ich waren wochenlang auf der Suche nach Wurzeln oder Kräutern, welche einem solchen Wesen schaden können. Im Falle eines Angriffs oder zur Verteidigung.

Da Lissy im Gegensatz zu mir mit den ganzen lateinischen Wörtern nichts anfangen konnte, hat sie begonnen zu trainieren und sich Kampftechniken anzueignen, während ich nach passenden Pflanzen recherchiert habe. So haben wir uns gegenseitig gut ergänzt und uns untereinander geholfen. Doch seit sie weggezogen ist, fühlt sich mein Leben wieder trostlos und eintönig an. Ich gehe zwar nie ohne Dolch aus dem Haus und habe immer etwas Wolfswurz oder andere giftige Pflanzen wie Goldregen, Rizinus, Eibe oder Tollkirsche dabei, dennoch fühlte ich mich mit ihr sicherer. Und da ich auch nicht mehr mit Lissy trainiere, vertraue ich meinem Umgang mit dem Dolch nicht mehr so wie früher. Bisher ist zum Glück alles gut gegangen und ich musste das alles nie einsetzten, aber wer weiß in welchen Ort es meine Mutter dieses Mal verschlägt. „Und? Bist du schon gespannt, wohin es geht?" Reißt mich die Stimme meiner Mutter neben mir, aus meiner Gedankenwelt. „Hmm." Gebe ich desinteressiert von mir und ziehe mein Handy aus der Jackentasche. Unser letztes Zuhause befand sich in der Nähe von Tralee im Südwesten Irlands. Genauer gesagt in den Ballyseedy Woods. Sowohl meiner Mutter als auch ich bevorzugten den Wald schon immer. Sie, da diese zumeist abgeschieden waren und sich selten jemand dorthin verirrte und ich, meiner Pflanzen wegen.

Doch nun stand uns eine knappe vier Stunden Tour durch halb Irland bevor. „Ach komm schon. Sei nicht so ein Miesepeter und freu dich doch auf dein neues Zuhause. Dieses Mal habe ich ein gutes Gefühl dabei, dass es vielleicht unsere letzte Reise ist." Sie lächelte mich an und sah dann wieder zurück auf die Straße. „Das hast du die letzten Male auch schon gesagt. Entweder du sagst mir jetzt, wohin es geht, oder ich höre Musik." Gab ich nur gereizt von mir. „Ich sage es dir gerne, wenn du wieder gute Laune hast. Aber so brauchst du mir nicht ankommen." Erneut rollte ich mit den Augen und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. „Dann eben nicht." Murmelte ich nur, während ich mir eine geeignete Playlist raussuchte. Ich konnte nur hoffen, dass es nicht in die Nähe von Dublin geht. Denn den Schriften zufolge sowie einigen Quellen im Internet, soll dort der Hotspot der Lykaner sein. Ob meine Mutter da wohl drüber nachgedacht hat, als sie sich unsere neue Bleibe ausgesucht hat? Ich kann es nur hoffen. Sowohl um meiner als auch ihrer Willen. Ich lehnte also meinen Kopf an die Scheibe, blickte nach draußen und sah den grünen Wiesen und Feldern hinterher. Es regnete mal wieder, weswegen mehr Autos unterwegs waren. Und während ich darüber nachdachte, wohin es uns wohl dieses Mal verschlägt, sah ich den Regentropfen dabei zu, wie sie an den Autoscheiben herunterflossen.

Der Hass meiner Gefährtin Where stories live. Discover now