Kapitel 21 - Rückkehr einer Tradition

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Xavier

„Kommst du?" Fragte ich sie erneut, da sei nicht den Anschein machte, gehen zu wollen. Also hielt ich ihr zusätzlich die Hand hin, welche sie mehr als zögerlich ergriff. Anschließend führte ich sie zurück in den Flur des Hauses, wo uns mein Bruder und seine Gefährtin verabschiedeten. Wir wünschten einander noch einen schönen Abend, ehe wir durch die Tür liefen und uns wieder die kalte Nachtluft erfasste. Ich überlegte etwas zu sagen. Sie auszufragen, was sie dachte, doch ich beließ es dabei. Ich wollte ihr nicht zu nahetreten und sie noch mehr bedrängen, als ich es ohnehin schon tat. Sie sollte sich nicht noch mehr von mir eingekesselt fühlen. Ich wollte ihr die Zeit geben, die sie brauchte. Also hielt ich ihre Hand fest und lief mit ihr wieder Richtung Wald, ehe sie kurz davor stehen blieb und die Stille unterbrach. „Wie weit ist das Haus von hier entfernt?" Ich zuckte mit den Schultern. „Zwei bis drei Kilometer in etwa." Sie sah ihn den Wald, als würde sie etwas in ihm suchen. Während ich nicht ganz verstand, worauf sie hinauswollte. „Wieso interessiert dich das?" Hakte ich dennoch nach. „Macht es dir was aus, wenn wir zurücklaufen? Also, als Menschen." Ich runzelte die Stirn, nicht wissend was ich davon halten sollte. „Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Es ist schon sehr spät, wir werden bestimmt eine Dreiviertelstunde unterwegs sein und du bist zu dünn angezogen." Wieder zog ich die Augenbrauen zusammen, da ich nicht wusste, was ich von ihrer Idee halten sollte.

„Das macht mir nichts aus." Entgegnete sie bloß und schien weiterhin meinen Blick zu meiden. „Bist du dir sicher? Ich kann dich auch wieder zurückbringen. Das wäre kein Problem für mich." Sie schüttelte den Kopf, ehe sie weitersprach. „Nein. Ich brauche das jetzt. Den Wald und die frische Luft. Da kann ich immer am besten nachdenken." Meine Ohren spitzen sich und ich glaube mich verhört zu haben. Hatte sie sich mir gegenüber gerade geöffnet? Hatte sie mir etwas aus ihrem Leben anvertraut? Innerlich strahlte ich wie ein kleines Kind, doch äußerlich war ich immer noch nicht so ganz überzeugt von ihrer Idee. Doch da war sie bereits losgelaufen und rief mir zu. „Kommst du jetzt? Ich meine, wenn du nicht willst, gehe ich auch allein." Bei diesen Worten knurrte Xenon beschützend auf und innerhalb weniger Sekunden war ich wieder bei ihr und lief neben ihr her. Ich wusste nicht, ob ich etwas sagen sollte und selbst wenn, was hätte ich schon groß sagen sollen. „Er sieht dir sehr ähnlich." Brach sie jedoch die Stille und lief weiter geradeaus. „Wer?" Fragte ich automatisch, ohne nachzudenken. „Dein Bruder und du." Ich nickte. „Und doch seid ihr so verschieden." Wieder musste ich nicken. „Ist das nicht bei Zwillingen immer so?" Entgegnete ich und sah sie fragend an. „Der eine ist gutaussehend, während der andere den kühleren Kopf hat?" Ich lächelte sie schelmisch an, während sie meine Aussage mit einem Kichern quittierte und den Kopf schüttelte.

Olivia

Natürlich würde er das sagen, so war er anscheinend. „Du schaffst es immer wieder den Fokus auf dein Aussehen zu setzten." Er lachte und verdammt. So etwas hatte ich noch nie gehört. Es klang tief, kehlig und verursachte eine extreme Gänsehaut bei mir. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so ehrlich lachen gehört. „Ist das denn was schlechtes?" Er sah mich fragend an, doch konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wenn dein Aussehen das Einzige ist, worauf du stolz bist und womit du prahlen kannst, schon." Ich warf ihm einen flüchtigen Blick zu, doch auch ohne ihn anzusehen, konnte ich das Lächeln auf seinem Gesicht sich auflösen sehen. Wo zuvor noch Grübchen waren, erinnerte sein Mund nur noch an einen trostlosen Strich auf einer leeren Leinwand. „Darüber habe ich noch nie so wirklich nachgedacht. Ich wurde bis jetzt immer nur auf mein Aussehen und meinen Rang reduziert. Alle Frauen haben sich immer nur für den gutaussehenden Alpha interessiert." Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er das sagte. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie viele er schon vor mir hatte. Ich meine, es war ja auch verständlich. Er war ein Alpha. Reich, dominant und dazu noch verdammt gutaussehend. Wer würde dem nicht widerstehen können. Dennoch fühlte sich der Gedanke, ihn mit einer anderen zu sehen, falsch an. Mein Herz sagte mir, dass es nur eine Frau an seiner Seite geben durfte und das war ich. Doch mein Verstand sagte mir, dass das lediglich das Gefährten-Band war, welches mich so etwas denken ließ.

Wir hatten mittlerweile die Lichtung erreicht, auf dem mein Zuhause stand. Somit endete der Abend anders als erwartet und ich fühlte mich so unsicher, wie nie zuvor. Meine ganzen Prinzipien, meine Vergangenheit als auch meine gesamte Existenz wurden heute in Frage gestellt. Ich wusste nicht mehr was ich glauben oder denken sollte. Waren Werwölfe vielleicht doch gar nicht so schlimm und wurden nur von uns Menschen zu diesem Monster gemacht, welches ich in ihnen sah? War an den ganzen Geschichten überhaupt etwas dran? Wie viel Wahrheit steckt wirklich in all dem, was ich über sie gelesen hatte? Oder waren sie vielleicht doch nur gute Schauspieler und ließen mich das sehen und hören, was sie wollten. Ich wusste es nicht. Doch das, was ich gesehen, gehört und selbst erlebt hatte, ließ mich an all meinem Wissen über sie zweifeln. Sie verhielten sich weder grundlos aggressiv, noch zwangen sie mich zu etwas. Weder Xavier noch Noah als auch Xander wirkten wie blutrünstige Monster, welche alles zerstören wollten. Im Gegenteil. Sie machten eher den Eindruck, friedlich leben zu wollen. Sie waren genauso, wie jeder andere auf der Welt, auf der Suche nach etwas. Nach diesem einem Menschen, mit dem sie ihr Leben verbringen konnten. So war es doch, oder hatte ich mich getäuscht? Hatte ich mich täuschen lassen? Aber wieso sollte mich Lisa anlügen. Xavier hätte einen Grund aber Xander? Ich seufzte frustriert auf.

Wir standen immer noch vor dem Haus, doch niemand schien etwas sagen, noch sich verabschieden zu wollen. Mein Wunsch, endlich wieder die Kräutermischung zu nehmen, rückte in den Hintergrund. Zu viel war in den letzten Stunden passiert, als, dass ich ohne Schuldgefühle diese Kräuter zu mir nehmen konnte. War es richtig gegen diese Verbindung zu kämpfen? Ich wusste es nicht mehr. Wo ich vor wenigen Tagen noch eine klare Antwort auf diese Frage fand, so stellte ich jetzt wiederum alles infrage. Ich befinde mich in einem grausamen Kampf, in welchem sich mein Herz und Verstand bekriegen. Eine bitterkalte Schlacht, bei der ich nicht weiß, wer als Sieger hervorgehen wird oder ob es überhaupt einen Sieger geben wird. Ich fühle mich, als stünde ich zwischen zwei Fronten, welche sich bis auf das Letzte bekämpfen werden. So stellte sich mir also die finale Frage: Wer würde bei diesem Kampf zwischen Kopf und Herz gewinnen?

Xavier

Ich sah sie sowohl abwartend als auch prüfend an. Während ich sie also genau musterte, musste ich feststellen, dass sie zwar körperlich anwesend war aber ihr Verstand schien Meilen entfernt zu sein. Ich konnte förmlich die Zahnräder arbeiten sehen und Räder rattern hören. Worüber zerbrach sie sich gerade den Kopf? War es das Gespräch mit Lisa? War es, wie es mit uns weiter gehen sollte? Ich wusste es nicht, würde es aber nur allzu gerne erfahren. „Worüber denkst du nach?" Stellte ich also die Frage und sah sie liebevoll an. Sie richtete ihren Blick ebenfalls auf mich, doch machte nicht den Anschein zu antworten. „Was ist los? Sprich mit mir, bitte. Lass mich nicht im den dunklen Tiefen des Ungewissen zurück." Sie senkte ihren Blick und spielte mit ihren Fingern. Das tat sie öfter, wenn sie unsicher war oder nicht wusste, was sie tun oder sagen sollte. „Ich weiß es nicht." Ich kam auf sie zu und umgriff zärtlich ihr Gesicht, ehe ich es nach oben drückte und sie zwang mich anzusehen. „Wer soll es wissen, wenn nicht du?" Ich lächelte sie an und strich ihr vorsichtig über die Wange. „Es fühlt sich falsch an, das alles." Sie kämpfte mit sich. „Das du diese Gefühle in mir auslöst, die eigentlich gar nicht da sein sollten. Aber sie sind es und ich, ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll oder kann." Sie schluchzte leicht und kniff die Augen zusammen, um nicht zu weinen. „Ich meine .. gib-gibt es kein Handbuch für sowas? Gefährten-Verbindung – Für Anfänger oder so?"

Ich musste lachen, was auch sie ein wenig zu beruhigen schien. „Wenn es doch nur so einfach wäre." Ich nahm sie in den Arm und spürte das erste Mal eine Bindung zwischen uns. Als hätten wir etwas geschaffen, was zuvor noch nicht da war. Als wären wir den ersten Schritt gegangen, welcher uns zum Ziel brachte und dieses Gefühl brachte mein Herz dazu schneller zu schlagen. „Das Einzige, was ich tun kann, ist dir Zeit zu geben." Sie sah zu mir auf und ich musste schlucken. Diese großen, blauen Augen schienen das Licht des Mondes zu reflektieren. Sie wirkten wie leuchtende Edelsteine in der Nacht und zogen mich in einen Bann. Ich könnte mich stundenlang mit ihnen beschäftigen und mich darin verlieren. „Was ist aber, wenn ich mich entscheide, dass ich das nicht möchte. Das ich das nicht fühlen möchte." Sie sah mich entschuldigend an. Doch ich konnte sie nur näher an mich drücken. „Man kann Gefühle verdrängen, aber verschwinden werden sie dadurch auch nicht. Wenn du also kein Wundermittel hast, was dich vor dem Mate-Band schützt, wirst du dich früher oder später darauf einlassen müssen." Sie sah mich immer noch von unten an, doch bei meiner Aussage, schien sie sich zu versteifen, was meine Instinkte weckte. Sie löste sich kurz darauf aus meiner Umarmung und nahm etwas Abstand. „Ich sollte rein gehen. Es ist schon spät." Ich nickte ihr zu und ließ sie gehen, doch nicht, bevor ich ihr noch etwas hinterherrief. „Fang an, auf dein Herz zu hören, denn dein Verstand wird dich niemals glücklich machen. Denk daran, Olive."

Olivia

„..dein Verstand wird dich niemals glücklich machen." Diese Worte hallten noch eine Ewigkeiten in meinem Kopf. Xavier war bereits vor einer Stunde gegangen, doch ich bekam einfach kein Auge zu. Zu viel war passiert, weswegen mein Kopf auf Hochtouren lief. Mein Blick wanderte immer wieder zum Schreibtisch, auf dem die kleine Flasche stand. Gefüllt mit den Tropfen, welche mich diese Gefühle vergessen ließen. Doch wollte ich das noch? Wollte ich vergessen, was ich den Abend gefühlt hatte? Was ich gefühlt hatte, als er mich zu sich zog? Als er mich die unzähligen Male berührte? Es war einfach zu sagen, ich nehme das Mittel, um das nicht mehr fühlen zu müssen. Doch war es auch das Richtige? War es nicht immer der schwere Weg, welcher einen zum Ziel führte? Doch war ich bereit diesen Weg zu gehen? War ich bereit, mich auf all das einzulassen? War ich stark genug, diesen Weg zu gehen und mich auf das unbekannte einzulassen. In der Hoffnung, es würde mich auf den richtigen Weg führen?

Der Hass meiner Gefährtin Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz