Kapitel 20 - Veränderter Blickwinkel

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Olivia

Sie umarmte mich und ich spürte, wie stark sie war. Sie sah gar nicht so aus. Sie war zierlich. Nicht wesentlich größer als ich und in etwa gleich dünn. Dennoch schien sie eine Kraft zu haben, welcher ich nicht gewachsen war. War sie vielleicht doch ein Werwolf? Wurde sie verwandelt? Ich dachte das sei nicht möglich. „Kommt doch erstmal rein. Unfassbar, dass wir hier noch so im Flur rumstehen. Mein Mann hat keine Manieren." Wieder sah sie ihn mit diesem Blick an. Ein Blick, welcher ihn bestrafen sollte, aber dennoch voller Liebe und Zuneigung steckte. Sie lief in die Küche und Xander folgte ihr wie ein Schoßhund. Ich sah Xavier mit hochgezogener Augenbraue fragend an. „Nach dir." Er deutete mir an vorzugehen, was ich letztendlich auch tat. „Können wir euch was anbieten? Einen Tee oder Kaffee?" Sie sah uns fragend an und obwohl Xavier etwas sagen wollte, schüttelte ich den Kopf und verneinte, während ich ihm auf den Fuß trat. „Sehr lieb aber danke. Wir wollen keine Umstände machen." Er sah mich beleidigt an, was ich nur mit einem bösen Blick quittierte. Wir sind hier mit einer Aufgabe und nicht, zum Kaffee oder Tee trinken. „Ach was, Papperlapapp. Ihr macht uns keine Umstände! Wir freuen uns, dass ihr hier seid. Wir bekommen so selten Besuch." Sie wirtschaftete also bereits herum und schien sich nicht mehr davon abbringen zu lassen. „Lisa? Bist du sicher? Denk dran, du musst dich schonen. Ist das nicht zu anstrengend?"

Xander schien sehr auf sie aufzupassen, was schon ein bisschen ulkig war. „Ach. Hör doch auf! Du immer mit deinem Aufpassen und deiner Ruhe. Alter Quatschkopf. Ich bin schwanger und nicht schwerkrank." Sie schob ihn beiseite, wie ein Stück Holz, welches im Weg lag, was mich schon leicht zum Schmunzeln brachte. Ich hatte noch nie gesehen, dass sich ein Werwolf so etwas von einem Menschen gefallen ließ. „Also, was darf es sein? Ich nehme an für dich einen Kaffee, Xavier? Und du? Einen Tee?" Ich lächelte unsicher. „Wenn es keine Umstände macht." Sagte jetzt Xavier und blickte mich wissend an. Ich konnte nur mit den Augen rollen und konzentrierte mich wieder auf Lisa, welche sich vor Xander stellte, nachdem sie den Tee und Kaffee aufgesetzt hatte. „Also, sagt ihr zwei. Was verschafft uns die Ehre, so spät am Abend." Sie lächelte mich freundlich an, während sie die Hände von Xander auf ihren Schultern platzierte und sich massieren ließ. Ich musste mir wirklich ein Lachen verkneifen, weil es mehr als drollig aussah, wie Lisa ihren um drei Köpfe größeren Partner Anweisungen gab und ihm zeigte, was er zu machen hatte. Ich meine, hallo? Der Typ war ein Werwolf, ein Monster, welches jemanden zerfleischen konnte und kein Schoßhund, welcher zuhause blieb und auf die Kinder aufpasste. Das passte alles nicht in das Bild, welches ich von Werwölfen hatte. Verhielten sie sich immer so? Oder hatte Xavier ihnen vielleicht doch Bescheid gegeben und sie spielten diese Rollen nur und hinter dieser reizenden Fassade misshandelte Xander sie?

Ich wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, doch um das herauszubekommen, werde ich Lisa alleine sprechen müssen. Ich hoffe nur, dass sie dann auch mit mir spricht. Nicht, dass sie eingeschüchtert ist und Angst hat was falsches zu sagen. „Wir wollten euch einfach nur mal besuchen und fragen, wie es euch so geht. Die Idee war recht spontan, deswegen entschuldigt die späte Störung." Versuchte Xavier die Situation diplomatisch zu klären. Er konnte ja schlecht sagen, dass ich Werwölfen misstraute und wir eine Wette am Laufen hatten, die jeder von uns gewinnen wollte. Beide nickten nicht ganz überzeugt, doch sagten nichts weiter dazu. Kurz darauf klingelte auch schon der Timer, welcher uns sagte, dass der Kaffee und Tee fertig waren. „Na dann würde ich sagen, ihr Jungs könnte ja ins Arbeitszimmer gehen, während Olivia und ich es uns im Wohnzimmer gemütlich machen. Was sagt ihr?" Doch ihre Aussage schien keine Frage zu sein, sondern ein Befehl, was mich wieder beindruckte. Wenn sie das alles spielte, dann war sie eine verdammt gute Schauspielerin. Die beiden Männer neben uns nickten und während Xander, Lisa einen Kuss auf den Kopf gab, versteifte sich Xavier neben mir und wir sahen uns etwas peinlich berührt an. Doch glücklicherweise hatte sich Lisa schon bei mir eingehakt und führte mich ins Wohnzimmer. „Na komm. Wir setzen uns erst einmal." Sie führte mich zur Couch und deutete mir an, mich zu setzen, was ich auch tat.

Es war eine Weile ruhig, ehe sie die Stille unterbrach. „Also, sag schon. Warum seid ihr wirklich hier. Es kommt nicht sonderlich häufig vor, dass uns der Alpha einfach so besucht und schon gar nicht in Begleitung eines Menschen." Sie sah mich immer noch lächelnd an. Doch ihre Aussage ließ mich stutzig werden. „Also bist du keiner mehr?" Fragte ich und sah sie abwartend an. „Was bin ich nicht mehr?" Stellte sie die Gegenfrage. „Na du meintest in Begleitung eines Menschen. Also bist du keiner mehr." Sie sah mich augenaufreißend an und schüttelte den Kopf. „Nein, also ja. Doch, bin ich noch. Wieso sollte ich keiner mehr sein?" Jetzt legte ich den Kopf schräg und sah sie skeptisch an. „Du hast das gesagt, als wärt du ein Wolf." Sie schüttelte den Kopf und wank ab. „Blödsinn, nein. Ich bin ein Mensch, genauso wie du." Ich nickte verstehend und nippte an meinem Tee. „Ist es das, warum ihr hier seid? Um zu sehen, ob ich ein Mensch bin? Dafür hättet ihr nicht vorbeikommen brauchen." Fing sie jetzt leicht an zu lachen und trank ebenfalls einen Schluck. „Nein. Das ist es nicht." Sagte ich bloß und sah mich im Wohnzimmer um. „Was ist es dann? Was ist los?" Sie sah mich an, wie es nur eine große Schwester tun konnte. „Es ist nur .. wir sind hier, weil .. ich meine .." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie erklärt man sowas. „Behandelt er dich gut?" Fragte ich nun geradeheraus und sah sie unentwegt an. „Wer? Xavier?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Xander. Dein Mann." Sie sah mich immer noch nicht verstehend an.

„Ja, natürlich behandelt er mich gut. Wieso fragst du?" Ich sah sie durchdringlich an, ehe ich die nächsten Worte flüsterte. „Du kannst es mir sagen, wenn er dir etwas antut. Ich kann dir helfen." Ich sah ihr direkt in die Augen, doch konnte nur Verwirrung erkennen. Sie hielt mir ihre Hand gegen die Stirn. „Geht es dir gut? Bist du krank? Hast du Fieber?" Ich nahm ihre Hand weg und schüttelte den Kopf. „Mir geht es gut. Ich will nur wissen, ob sie dich gegen deinen Willen hierbehalten." Sie sah mich ungläubig an. „Gegen meinen Willen? Nein, ich bin freiwillig hier. Was ist denn los?" Sie lehnte sich zurück und streckte sich, ehe sie über ihren Bauch strich, welcher mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen war. „Oh Gott! Hat er dir das angetan? Musst du seine Kinder austragen?" Sie schüttelte den Kopf und legte ihre Hände auf meine Schultern. „Was ist denn los? Warum denkst du sowas? Niemand hält mich hier gegen meinen Willen fest. Ich bin freiwillig hier, warum sollte ich nicht? Ich liebe Xander und bin mit seinen, unseren Kindern schwanger." Sie sah mich abschätzig an, ehe sie weitersprach. „Ist es, weil du Xaviers Gefährtin bist? Hast du Angst davor? Weil er ein Werwolf ist?" Ich schüttelte den Kopf und nickte gleichzeitig. „Ja, nein. Ich weiß, was er ist. Aber wie kann denn das sein. Warum behandelt er dich so. Ich meine, das sind Monster. Sie sind herzlose Bestien, welche sich das nehmen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Ohne Rücksicht auf Verluste. Warum bist du so .." Sie sah mich liebevoll an. „Glücklich?" Ich nickte und wusste nicht mehr, was ich glauben oder denken sollte.

„Ich bin glücklich, weil ich ihn liebe. Von ganzen Herzen, auch wenn er manchmal übervorsichtig ist. Ich darf nicht einmal mehr arbeiten gehen. Und das nur, weil ich schwanger bin." Sie lachte und streichelte sich über ihren Bauch. „Ich weiß ja nicht, wo du all das herhast, was du glaubst über Werwölfe zu wissen, aber du solltest nicht alles glauben, was irgendwo geschrieben steht oder dir erzählt wird. Auch ich musste das anfangs lernen." Ich sah sie neugierig an und deutete ihr an, weiterzusprechen. „Weißt du, wir wurden mit dem Glauben aufgezogen, dass alles, was anders ist, schlecht ist. Doch das ist es nicht. Ich habe mich anfangs auch dagegen gewehrt. Das ging so lange, bis ich vor Schmerzen zusammengebrochen bin. Xander hat mich dann im Wald gefunden und zu einem Arzt gebracht. Sie waren damals auf der Durchreise, als wir uns begegnet sind. Ich wusste anfangs gar nicht, was mit mir und meinem Körper geschah. Da war dieses seltsame Gefühl in mir, welches mich zu ihm zog. Das Kribbeln auf meiner Haut, wenn er mich berührte und die Leere, welche nur gefüllt werden konnte, wenn er bei mir war. Doch jetzt ist es für mich das schönste Gefühl auf der Welt, an der Seite dieses Mannes zu sein. Wir sind glücklich." Sie lächelte mich ehrlich an und hatte während ihrer Erzählung meine Hand genommen. „Aber was ist mit deiner Familie? Was ist mit Lissy?" Sie seufzte auf und sah mich traurig an.

„Nachdem ich Xander meinen Eltern vorgestellt hatte, sind sie auf ihn losgegangen und haben ihn davongejagt. Sie wussten, was er war, und sie hassten seine Spezies, ohne ihn zu kennen. Sie waren blind vor Wut und stellten mich vor die Wahl. Entweder er oder sie." Ich spürte ihr Trauer, über diesen Vorfall und strich ihr behutsam über die Hand. „Und du hast dich für ihn entschieden." Beendete ich daher die Erzählung und sah sie mitfühlend an. „Ich wusste, dass ich ihn brauchte. Meine Eltern hingegen verstanden das nicht. Also habe ich sie verlassen." Sie machte eine kurze Pause. „Weißt du zufällig, wie es Lissy geht? Ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen." Ich drückte ihre Hand fester und schüttelte den Kopf. „Wenige Monate nach deinem Verschwinden sind sie weggezogen und ich habe sie nie wieder gesehen. Auch meine Mutter und ich sind umgezogen. In das kleine Waldhaus, nahe eures Rudels." Sie lächelte mich liebevoll an. „Ach, ihr seid das? Viele haben sich schon gefragt, wer für solch eine Aufruhr im Rudel gesorgt hat. Jeder war alarmiert. Das Haus stand seit mehreren Jahren leer. Zuvor haben dort immer Jäger gewohnt, welche das Rudel angegriffen haben. Wir hatten schon befürchtet, dass es wieder zu einem Krieg kommen würde." Sie sah mich aus sorgevollen Augen an. „Aber jetzt müssen wir zum Glück nichts mehr befürchten." Ich nickte ihr zu. „Nein, müsst ihr nicht." Wir saßen noch eine Weile da und hingen unseren Gedanken hinterher, ehe Xavier und Xander das Wohnzimmer betraten.

Xavier

„Ich denke, es wird Zeit zu gehen." Beide saßen auf der Couch und blickten nach oben. Während Lisa aufstand und sich in Xanders Richtung bewegte, saß Olivia immer noch auf dem Sofa und ließ mich nicht aus den Augen. Doch selbst wenn ich gewollt hätte, ich hatte nur Augen für sie und suchte ihren Blick. Ich musste ihr jetzt in die Augen sehen. Sowohl ich als auch mein Wolf brauchten die Bestätigung, dass sie ihre Meinung geändert hatte. Ich spürte zwar, dass sie immer noch versuchte sich gegen die Anziehungskraft zu wehren, doch als auch sie aufstand und mir kurz in die Augen sah, konnte ich dort eine kleine Veränderung erkennen. Ihre Augen waren nicht mehr mit Hass gefüllt. Dieser war in den Hintergrund gerückt. Vielmehr sah ich Unsicherheit und Verzweiflung in ihnen. Wem diese Gefühle galten, konnte ich zwar nicht erkennen, dennoch erleichterte mich das zu mindestens ein wenig. Ich konnte nicht jedes Wort ihrer Unterhaltung verfolgen, dennoch glaube ich, dass Olivia ihr glaubte. Ich meine, warum auch nicht? Das war ja schließlich die Wahrheit. Trotzdem kannte ich sie noch nicht lang genug, um einzuschätzen, ob sie sich von dieser Erzählung beeinflussen ließ und inwiefern das eine Auswirkung auf ihre zukünftigen Entscheidungen hatte. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass das ein wichtiger Schritt auf dem Weg zueinander war. Ein Schritt auf dem Weg, sie für mich zu gewinnen und von mir zu überzeugen.

Der Hass meiner Gefährtin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt