Kapitel 22 - Ich fühle mich betäubt

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Olivia

Natürlich war ich es nicht. Ich war ein Schwächling und ein feiger noch dazu. Eine Woche war seitdem vergangen. Eine Woche, in der ich wieder zwei Mal täglich die Kräutermischung zu mir nahm. Ich wusste nicht, was ich sonst getan hätte oder was passiert wäre. Von Xavier hatte ich seitdem auch nichts mehr gehört. Ich wusste nicht, ob er einfach nur beschäftigt war oder mir immer noch „Zeit geben" wollte, so wie er es nannte. Fragen konnte ich ihn aber auch schlecht, da ich ihn sowohl blockiert als auch seine Nummer gelöscht hatte. Tja, wer hätte es gedacht. Ich war kein Kämpfer. Also jeder von euch, der dachte, ich würde mich für den schwierigen Weg entscheiden. Endlich über meinen Schatten springen. Mich dieses Mal zusammenreißen, den muss ich leider enttäuschen. Ihr habt zu viel erwartet. Auf die Falsche gesetzt. Nicht gesehen, was für ein jämmerlicher Versager ich war. Ein erbärmliches Stück Elend, welches sich in die Hosen machte, sobald es schwieriger wurde. Ein Haufen Armseligkeit, welcher es nicht verdient hatte, geliebt zu werden. Während ich also vor meinen Notizen saß und mir den Aufbau von Viren und Bakterien ansah, musste ich zeitgleich an mein Lager denken und die Knappheit bestimmter Pflanzen. Besonders der Pflanzen, welche ich für meine Anti-Mate-Kräutermischung brauchte. Ich hatte es in den letzten Tagen vermieden den Wald zu betreten, doch da ich nur noch zwei Rationen hatte, muss ich mich wohl oder übel dazu durchringen.

Xavier

Unser Rudel wurde angegriffen. Wir hatten glücklicherweise keine Verluste zu verzeichnen, dennoch wurden einige unserer Grenzgänger schwer verletzt. Doch das schlimmste an der Sache war, wir wussten immer noch nicht wer uns angegriffen hatte. Mein Rudel hatte mit allen umliegenden Rudeln ein Friedensabkommen. Seit ich an der Macht war, hatte ich die Fehler und Taten meines Vaters ausbessern müssen. Ich schloss mit allen Rudeln, mit welchen er Krieg geführt hatte, ein Bündnis. Dieses versprach uns Frieden und ihnen die Widergutmachung und eine anteilige Rückzahlung, der von uns verschuldeten Verwüstung. Dabei konnte mein Rudel dieses Jahr die letzten, nötigen Beiträge abstottern, weswegen wir ab nächstem Jahr schuldenfrei waren. Dennoch fragte ich mich, wer uns angreifen würde. Niemand würde so kurz vor Absolvierung der Vertragsbedingungen einen Krieg beginnen. Doch trotz dieser immer wieder neu aufkeimenden Probleme, konnte ich an nichts anderes denken als an meine Gefährtin. Selbst der Angriff und ein uns möglicherweise bevorstehender Krieg, stellte die Funkstille zwischen Olivia und mir nicht in den Schatten. Sie war der einzige Gedanke, den ich weder am Tag noch in der Nacht verdrängen konnte und, dass sie mich seit einer Woche wieder ignorierte, machte das Ganze nicht sonderlich besser. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie das tat oder was ich noch tun sollte, aber so langsam verlor ich meine Geduld. Sie strapaziert meine Gutmütigkeit bereits seit Wochen über und ich glaube, dass es langsam Zeit wird, die Krallen auszufahren.

Ich bin ein Werwolf. Ein mächtiger Alpha und immer noch ein Raubtier. Wir warten nicht, bis die Beute freiwillig auf unseren Tisch kriecht. Wir sind Jäger und wenn es sein muss, sorgen wir selbst dafür, dass die Beute auf unserem Teller landet. Wenn wir also zu lange warten müssen und die Geduld verlieren, gibt es nur eine Möglichkeit, unseren Hunger zu stillen. In diesem Fall bedeutet das, ich werde ihr einen Besuch abstatten, welcher nichts mehr mit Höflichkeit zu tun hat. Ich will endlich das, was mir zusteht. Was mir von der Mondgöttin persönlich versprochen wurde. Meine rechtmäßige Gefährtin und wenn ich über Leichen gehen muss, damit sie einsieht, dass sie mir und meiner Anziehungskraft nicht entkommen kann. Wir sind füreinander bestimmt, ob es ihr nun gefällt oder nicht. Während ich also die letzten Handgriffe tätigte, um mir den Nachmittag freizunehmen, versuchte ich mich mit Xenon in Verbindung zu setzten, um ihn in meinen Plan einzuweihen. Ich hatte keine Lust auf irgendwelche außerplanmäßigen Überraschungen. Es sollte alles so ablaufen, wie ich es geplant hatte. Doch dafür musste auch mein sturköpfiger Wolf zustimmen, welcher schon vor Wochen die Geduld verloren hatte und blind vor Wut und Liebe geworden war. Immerhin spürt er die Verbindung wesentlich stärker als ich. Doch das ist eine ganz andere Baustelle. Nachdem wir also alles erledigt hatten, verließen wir das Rudelhaus und machten uns auf direktem Weg zu unserer Gefährtin.

Olivia

Nachdem ich also so gut, wie es eben ging für die anstehenden Prüfungen gelernt hatte, bereitete ich alles für meinen nächtlichen Ausflug vor. Ich machte mir eine Liste mit all den Pflanzen, welche ich heute mitnehmen muss. Nahm genügend Gläser mit, Handschuhe, passende Messer und eine Schaufel. Anschließend verstaute ich alles in meiner Tasche und zog mir meine Stiefel sowie Winterjacke an, ehe ich die Haustür hinter mir zuzog. Das Wetter war in der letzten Woche wesentlich kälter und ungemütlicher geworden. Immerhin hatten wir bereits November, dennoch schützt das nicht davor, meine Vorräte auffüllen zu müssen. Glücklicherweise wachsen die Pflanzen, welche ich benötigte, auch im Winter, was die Sache mit den Tropfen einfacher machte. Ich schlug also den Weg nach Nord-Osten ein, damit ich weder ihr Territorium betrat noch mit anderen Werwölfen in Kontakt trat, denn das konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen. Also lief ich immer auf den Boden schauend geradeaus und versuchte obererdigen Wurzeln oder umgefallenen Bäumen auszuweichen, ehe ich eine gute Stelle fand, an der die ersten Pflanzen wuchsen. Ich bückte mich daher und buddelte die einzelnen Jungpflanzen aus, ehe ich von einer alten bekannten Stimme unterbrochen wurde. „Na sieh mal einer an, wer sich hier draußen herumtreibt." Ich ließ meinen Blick gesenkt und versuchte mich auf das Ausbuddeln und Umtopfen zu konzentrieren. Doch das schien ihn wenig zu betreffen, da er bereits weitersprach.

„Du warst lange nicht mehr draußen. Hatte das einen Grund?" Ich wollte ihm nicht antworten. Er sollte selbst erkennen, dass ich weder bereit war, mich mit ihm auseinanderzusetzen, noch mit ihm zu reden. Ich hatte gerade wichtigeres zu tun, als mich mit den Gefühlen eines Werwolfes zu befassen. Doch er ließ nicht locker und fing immer wieder von neuem an. „Ich merk schon, da ist heute jemand nicht sonderlich gesprächig." Ich grummelte nur vor mich hin und versuchte mich nicht von ihm beeinflussen zu lassen, dennoch, so gern ich es getan hätte, ignorieren konnte ich seine Anwesenheit nicht. Sowohl mein Herz als auch mein Körper fühlten sich zu ihm hingezogen. Die Kräutertropfen hingegen, welche genau diese Gefühle unterdrücken sollten, brachten meine Haut zum Kochen, weswegen ich mich augenblicklich kratzen musste, doch meine Haut schien sich nicht beruhigen zu wollen. „Was willst du hier? Stalkst du mich etwa immer noch?" Ich legte so viel Desinteresse in diese Aussagen, wie es mir in diesem Augenblick eben möglich war. „Ich will mit dir reden. Mehr nicht." Ich rümpfte die Nase, ehe ich mich erhob und weiterlief. „Ich aber nicht mit dir. Also lass mich allein." Er knurrte, was mir eine Gänsehaut verpasste und mich leicht aufschrecken ließ. „Olivia. Treib es nicht zu weit. Denn so langsam verliere ich meine Geduld. Ich will endlich Antworten!" Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn provozierend an. „Worauf möchtest du denn Antworten?" Ich lächelte ihn falsch an und klimperte mit den Wimpern.

„Wie lange willst du dich noch dagegen wehren?" Sein Blick veränderte sich und er sah mich mit traurigen Augen an, während er auf meine Antwort wartete. Doch er würde ewig warten. Denn ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, wie lange ich durchhalten würde, ihm und dieser Anziehungskraft zu widerstehen. Ich wusste nicht, wie lange ich die Kräutermischung noch herunterbekam, obwohl sich mein Körper bereits dagegen wehrte. Ich spürte ja schon längst die Nebenwirkungen meines Experiments und die waren alles andere als schön. Er kam mir näher und sah mir eindringlich in die Augen. „Spürst du nicht, wie sehr wir uns brauchen?" Unsere Nasenspitze waren nur Zentimeter voneinander entfernt. „Ich höre doch dein Herz, welches schneller schlägt, wenn ich bei dir bin. Ich sehe deine Nackenhaare, die sich aufstellen, sobald ich dich berühre. Ich fühle die Gänsehaut, welche sich bildet, wenn ich dir etwas zuflüstere." Ich musste mich zusammenreißen und legte mir die Worte bereits im Kopf zusammen. „Ich weiß nicht, was du meinst." Ich mied seinen Blick und sah zur Seite, doch er packte mein Gesicht, nahm es in beide Hände und sah mich zögernd an. „Sie mich an!" Knurrte er, während ich meinen Kopf widerwillig schüttelte. „Bitte!" Es klang bettelnd, schon fast flehend, also tat ich ihm den Gefallen und sah ihn mit Tränen gefüllten Augen an. „Sag mir, fühlst du auch nichts, wenn ich das mache?" Ich sah ihn fragend an und wollte gerade den Mund öffnen, als er mich küsste. Ich konnte gar nicht realisieren, was gerade passierte, doch er küsste mich. Einfach so.

Seine Lippen lagen auf meinen und bewegten sich auf diesen. Sie waren weich. Samtweich. Ich war währenddessen völlig überfordert mit der ganzen Situation und konnte einfach nur danebenstehen. Dennoch spürte ich die Funken, welche sich lösten, während er mich berührte. Sie lösten ein Feuerwerk in meinem Inneren aus, welches mich süchtig nach mehr werden ließ. Doch dann, ganz plötzlich, verblasste alles. Innerhalb einer winzigen Sekunde verließ mich die wohlige Wärme, welche mich gerade noch umhüllt hatte. Das Feuerwerk schien, als wäre es nie da gewesen und mich umgab eine Eises Kälte, welche meinen Körper einnahm und mein Blut gefrieren ließ. Ich stieß einen erschöpften Atemzug aus, welcher als Nebel in der Nachtluft verschwand. Mein Herz jedoch, schrie bereits nach ihm. Schrie nach seiner Berührung. Seiner Wärme. Wollte wieder die Funken spüren, welche seine Haut auf meiner hinterließen. Doch ich konnte nicht, durfte mich diesem Gefühl nicht hingeben. Es war Falsch. „Bitte." Bettelte ich fast und war unfähig ihn auch nur eine Sekunde anzusehen. „Bitte was?" Fragte er nach, ohne mein Gesicht loszulassen. „Bitte, lass mich los." Er tat wie ihm gesagt wurde und trat ein Schritt zurück. „Ich kann das nicht." Flüsterte ich mehr zu mir als zu ihm. „Geh. Bitte. Ich, ich kann das nicht. Das geht nicht, i-ich muss allein sein." Ich umfasste meine Arme, versuchte ein ähnliches Gefühl in ihnen zu wecken, doch es funktionierte nicht. Sie schienen taub zu sein, immer noch von dem überwältigt, was gerade passiert war.

„Du kannst mir doch nicht erzählen, dass dich das alles kalt lässt!" Er schien wütend zu sein. „Das ist doch völliger Schwachsinn! Ich weiß, dass du das Gleiche fühlst wie ich!" Er lief auf und ab und durchwühlte seine Haare. „Gib es doch endlich zu! Du sehnst dich genauso sehr nach meinem Körper, wie ich mich nach deinem!" Er blieb stehen, trat zwei Schritt auf mich zu und sah mich flehend an. „Olive, bitte. Ich begehre dich. Schmachte nach dir, seit ich denken kann. Mein Körper lechzt nach deinem. Meine Seele ist versessen darauf, sich mit deiner zu verbinden. Ich verlange nach dir! Du gehörst zu mir. Wir gehören zueinander! Bitte, ich brauche dich." Mir kamen die Tränen, doch mein Verstand stellte sich über die Bedürfnisse meines Herzens. „Xavier, bitte. Geh einfach. Das ist falsch. So solltest du nicht fühlen. Bitte, ich kann das nicht." Ich versuchte mich zu beruhigen und nicht in Panik zu verfallen. „Was kannst du nicht? Rede mit mir, bitte. Ich flehe dich an!" Ich riss meinen Blick nach oben, während die ersten Tränen meine Augen verließen und über meine kalten Wangen liefen. „Das alles!" Ich schluchzte, während ich dachte, meine Stimme würde mir jeden Moment entgleiten. „Das alles hier. Du und ich. Wir. Das geht einfach nicht!" Ich zeigte auf unsere Umgebung und sah ihm in die Augen. Sah, wie etwas in ihm zerbrach. „Warum nicht. Was ist daran falsch?" Seine Stimme war leise, klang belegt. Er war verletzt, das spürte ich. „So solltest du nicht fühlen müssen. Nicht wegen mir. Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass ich die Falsche bin."

Ich ging an ihm vorbei und stellte mich mit dem Rücken zu ihm. „Es wäre besser, wenn du jetzt gehst." Er schien mich noch eine Weile zu mustern, denn ich spürte seinen Blick auf mir. „Ich werde nicht aufgeben. Niemals. Ich werde um dich kämpfen, egal was es kostet." Mit diesen Satz ließ er wieder etwas Wut in mir aufkommen. „Hör auf etwas hinterher zu rennen, was nicht gejagt werden will! Vergiss mich einfach! Das wäre für uns beide das Beste." Er drehte sich zu mir um und sah mir tief in die Augen. „Lieber sterbe ich, als dich gehen zu lassen!" Danach würdigte er mich keines Blickes mehr und verschwand genauso schnell, wie er gekommen war. Ich konnte meine Gefühle jedoch nicht mehr zurückhalten und fing augenblicklich an zu weinen. Ich stützte mich an dem Baum neben mir ab und versuchte nach Luft zu ringen, doch mein Brustkorb fühlte sich wie zugeschnürt an. Ich japste nach Luft und sah bereits schwarze Punkte vor meinem Auge tanzen. Innerlich verfluchte ich mich und meinen schwachen Körper für meine äußerliche Verfassung, da ich mich bereits auf dem Waldboden zusammenbrechen sah und hier draußen erfrieren oder sogar sterben könnte. Doch dann sah ich in den Himmel und blickte direkt in den weiß strahlenden Mond, welcher versuchte die Nacht zu erhellen. Und augenblicklich spürte ich eine Kraft in mir, dessen Ursprung ich mir nicht erklären konnte. Ich hörte eine Stimme in meinem Kopf, welche mit Mut zusprach. „Bleib stark. Halte durch." Und genau das tat ich. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, stellte mich aufrecht hin und sog die kalte Nachtluft tief in meinen Lungen auf.

Der Hass meiner Gefährtin Where stories live. Discover now