Tag 64 Teil 3

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Kiri

Ein seltsames Prickeln durchlief meinen gesamten Körper, als ich Neteyams Hand nahm.
"Ich werde jeden Tag für dich zu Eywa beten. Sie wird uns erhören und wir werden uns wiedersehen, das weiß ich einfach. Bald sogar, das kann ich fühlen."

Ich konnte nicht nur das fühlen.
Ich fühlte Alles.
Jeden Na'vi um mich herum.
Jedes noch so kleine Lebewesen in einem weiten Umkreis.
Ich spürte Neteyam in meinem Kopf.
Und vor Allem fühlte ich Eywa.
Sie war ganz nah bei mir, wie ein Wort, kurz bevor man es ausspricht.
Dann öffnete sich mein Mund und ich sprach dieses Wort aus.

Ich schloss die Augen und gab mich ganz diesem vertrauten, aber dennoch fremdartigen Gefühl hin.
Alles in mir kribbelte, um ein tausendfaches intensiver als alles, was ich bisher je gespürt hatte.
Ich spürte die Überraschung und Sorge jedes einzelnen Na'vi in meiner Nähe.
Ein Zittern durchlief meinen Körper wie bei dem einen Mal, als ich mich mit dem Baum der Geister verbunden hatte.

Jemand griff meine Hand und ich wusste, dass es Ao'nung mit Tuk im Arm war. Er versuchte, mich von Neteyam zu lösen aber ich wusste, dass es ihm nicht gelingen würde. Eywa hatte andere Pläne.

Meine Wahrnehmung erstreckte sich jetzt langsam über den Arm meines Bruders, den ich ergriffen hatte.
Langsam, nach seinem Bewusstsein tastend, spürte ich immer mehr von seinem Körper in mir.
Als ich sein Gehirn erreicht hatte, stockte ich. Er war tot, keine Frage, aber irgendwas war anders. Ich stieß durch die Barriere und tauchte gedanklich in das immer mehr verblassende Farbspiel ein.

Meine Augen öffneten sich und vor mir war Eywa. Sie war strahlend hell. Mehr konnte ich nicht ausmachen. Weder einen Umriss noch genauere Anhaltspunkte, was sie eigentlich genau war.

Stimmen drangen zu mir durch.

Tuk fragte ängstlich, was da grade passierte. "Ich hab keine Ahnung, meine Kleine. Aber ich glaube -" Ao'nung stoppte. "Ich glaube, deine Schwester steht grade in direktem Kontakt mit Eywa."

Wenn er wüsste.
Ich verneigte mich tief vor Eywa. "Große Mutter, oel ngati kameie." Ein wohltuender Stromschlag durchzuckte mich und die Worte Oel ngati kameie, Kiri te Suli Kìreysì'ite tauchten in meinen Gedanken auf. Ich sollte lieber Eywa'ite zu dir sagen, aber ich denke, dass das keine Überraschung für dich ist. Sie hatte Recht. Schon immer hatte ich eine besondere Verbindung zu ihr gespürt. In letzter Zeit ist sie immer präsenter geworden und ich konnte ihren Herzschlag in jedem Augenblick spüren.
"Was passiert jetzt?" Ich weiß, dass du das schon längst erkannt hast.
"Kann ich das wirklich?", fragte ich schließlich zögernd.
Der Weg des Wassers hat keinen Anfang und kein Ende. Das Wasser umgibt dich und ist in dir. Das Wasser ist deine Heimat, vor deiner Geburt und nach deinem Tod. Unsere Herzen schlagen im Schoß der Welt. Das Wasser gibt und das Wasser nimmt. Wasser verbindet alle Dinge; Leben mit Tod, Dunkelheit mit Licht. Aber bedenke: wie alles Andere hat auch dies einen Preis. Bist du bereit, ihn zu zahlen? Sofort nickte ich. "Neteyam ist mir Alles wert. Und wenn ich für ihn sterben müsste, würde ich das tun."
Eine Welle voll positiver Emotionen überrollte mich und ich erkannte, dass sie lachte. Solch drastischen Maßnahmen sind gar nicht nötig. Deshalb frage ich noch einmal: bist du bereit? Es wird dich schwächen und es wird schmerzhaft.
"Ich bin bereit."
Ich fühlte, dass sie stolz war. Dann, mein Kind, wünsche ich dir viel Kraft. Und denke daran - ich werde immer auf dich warten und dich auffangen, wenn du fällst. Bis wir uns wieder sehen. Ihre Präsenz verschwand aus meinem Kopf, hinterließ aber eine gewaltige Menge Kraft.
Vorsichtig zapfte ich dieses Energiebündel an. Es war überwältigend und ich befand mich in einem Zustand von purer Ekstase. Ich wünschte, dass dieser Rausch nie enden würde; aber Neteyam brauchte mich, bevor er ganz verblasste. In Gedanken sah ich mich in seinem Gehirn um.
Alle Erinnerungen, alle seine Charaktereigenschaften und all seine Gefühle hatten jeweils einen eigenen Platz. Ich streckte mich nach dem Ersten - seiner allerersten Erinnerung überhaupt - und berührte sie.
Energie durchzuckte mich und brachte sie zum strahlen. Es fühlte sich unglaublich gut an, schmerzte aber gleichzeitig auch unendlich sehr. Dann verstand ich, dass Eywa Recht gehabt hatte. Bis ich jede einzelne Erinnerung wiederbelebt hätte, würde es dauern.

Tage waren vergangen, in denen ich einzig und allein auf seine Erinnerungen fokussiert war. Ich hatte sein ganzes Leben nocheinmal miterlebt und kam schließlich an die letzte, die er hatte.
Durch seine Augen sah ich Ao'nung und Lo'ak verweint über mir. Dann wurde alles schwarz.
Schweren Herzens verleihte ich auch diesem Moment neuen Glanz und Schmerzen durchzuckten mich.

Ich gönnte mir eine kurze Verschnaufspause und drehte mich dann zu seinem Charakter. Seufzend tauchte ich ein.

Nach einigen Stunden war ich bereits fertig und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Jetzt noch seine Emotionen. Und natürlich das eigentliche Wiederbeleben.
Kiri, du hast schon fast alles hinter dir, jetzt halt durch, spornte ich mich selbst an.
Meine Zähne zusammenbeißend quälte ich mich Stunde um Stunde durch seine Gefühle.
Es war unvorstellbar anstrengend und schmerzhaft. Inzwischen war auf von der anfänglichen Ekstase nichts mehr zu spüren. Erschöpft flatterten mir die Augenlider, doch ich zwang mich, durchzuhalten.

Ich grub mich immer tiefer in sein Wesen ein, auf der Suche nach... ja, nach was eigentlich? Ich wusste, ich würde es erkennen, sobald ich es sah. Also suchte ich immer weiter.

Bis ich es endlich fand.

Was genau ich gefunden hatte war mir unklar. Ich hatte das starke Gefühl, dass ich hier einfach genau richtig war.
Mit geschlossenen Augen konzentrierte ich mich. Um ehrlich zu sein, ich hatte keine Ahnung, was ich überhaupt tun sollte. Aber die fremdartige, aber mir schon so vertraute Kraft schien es ganz genau zu wissen. Sie strömte durch meinen Körper und mir wurde immer wärmer, bis ich dachte, in Flammen zu stehen.
Schreiend vor Schmerz wandte ich mich hin und her, unternahm aber keinen Versuch, es zu stoppen. Ich war so gut wie am Ziel.
Wenn ich gewusst hätte, wie lange es tatsächlich noch gedauert hat, hätte ich vielleicht aufgegeben.
Aber so quälte ich mich durch die Sekunden, die immer länger werden zu schienen.

Ich hatte mein Zeitgefühl schon lang verloren. Vielleicht waren einige Stunden vergangen. Vielleicht waren es drei Wochen gewesen. Vielleicht aber auch nur wenige Minuten; ich wusste es nicht.
Vollkommen erschöpft zog ich mich ganz ganz vorsichtig aus seinem jetzt wieder intakten Bewusstsein zurück und lächelte müde, als ich seine Persönlichkeit in allen Farben erstrahlen sah. Sein Wesen war wunderschön - kein Wunder, dass Ao'nung ihn so sehr liebte.
Alles, was jetzt noch in mir Platz hatte, war der Wunsch, zu schlafen. Sobald ich mich ganz aus Neteyam zurückgezogen hatte und wieder volle Kontrolle über meinen und nur meinen Körper hatte, rollte ich mich ein und schlief.

[ich hoffe, dass das mit eywa und dieser ganze wiederbeleben-kram nicht als "zu einfach" dargestellt ist
ps danke für die ganzen reads, votes und lieben kommentare <3]

Ao'nung x Neteyam Slow BurnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt