Tag 68

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Kiri

Der Weg des Wassers hat keinen Anfang und kein Ende. Das Wasser umgibt dich und ist in dir. Das Wasser ist deine Heimat, vor deiner Geburt und nach deinem Tod. Unsere Herzen schlagen im Schoß der Welt. Das Wasser gibt und das Wasser nimmt. Wasser verbindet alle Dinge; Leben mit Tod, Dunkelheit mit Licht.

Eywas Worte hallten in meinem Kopf wieder.

Der Weg des Wassers hat keinen Anfang und kein Ende.

Neteyams Leben hatte ganz klar einen Anfang. Aber das Ende war nicht ersichtlich. Er hätte an der Schusswunde sofort sterben müssen. Er müsste jetzt mausetot sein. Und dennoch hatte ich gespürt, wie sein Herz wieder zu schlagen begonnen hatte. Wie sein Gehirn seine gewohnten Tätigkeiten wieder aufgenommen hatte.

Das Wasser umgibt dich und ist in dir.

Ich war von Wasser umhüllt. Nicht nur in Neteyams Kopf, sondern auch jetzt noch in diesem Zustand, den ich nicht in Worte fassen konnte.

Das Wasser ist deine Heimat, vor deiner Geburt und nach deinem Tod.

Man könnte seine aktuelle Situation gut als eine zweite Geburt sehen. Er war gestorben und wieder zurückgekommen. Als er tot war  und ich mich in seinem Kopf zu Schaffen gemacht hatte, hatte ich zu jeder Zeit Wasser um mich herum gehabt.

Unsere Herzen schlagen im Schoß der Welt.

Vielmehr schlugen sie in Eywas Schoß. Sie hatte Macht über alles Leben, schien aber nie einzugreifen. Auch jetzt hatte ich alles allein herausfinden müssen; trotzdem hatte ich sie immer in meiner Nähe gespürt.

Das Wasser gibt und das Wasser nimmt.

Es hatte ihm sein Leben genommen, aber gleichzeitig hatte es ihm genau das auch wieder gegeben. Also eigentlich war das ja ich, aber das Wasser war dabei immer da. Vielleicht war das doch ausschlaggebender gewesen, als ich gedacht hatte.

Wasser verbindet alle Dinge; Leben mit Tod, Dunkelheit mit Licht.

Ich konnte gar nicht sagen, wie froh ich war, dass das Wasser verbindet. Ohne es hätte ich Neteyam niemals zurückholen können.
Plötzlich durchzuckte mich die Erinnerung an Spiders Beerdigung. Wieso hatte ich ihm nicht auch helfen können?
Eywa gab mir keine Antwort, aber ich hatte auch nicht wirklich eine erwartet.

Langsam versuchte ich, mein Bewusstsein zu versammeln. Es fühlte sich aktuell so an, als würden hunderte Bruchstücke von mir in meinem Körper verteilt sein. Ich wusste, dass ich mich erst einmal selbst wieder zusammensetzen musste.
Das Wasser umgibt dich und ist in dir.
Mit neuer Kraft zwang ich mich dazu, jedes einzelne, noch so kleine Stück zu suchen und einzusammeln. An das Zusammensetzen würde ich mich danach machen.

Eine gefühlte Ewigkeit später hatte ich das Gefühl, fertig zu sein.
Ich breitete die Bruchstücke vor mir aus und sah sie ratlos an. Wie würde ich alle wieder an die richtige Stelle setzen können, ohne dass der Rest auseinanderfallen würde?
Wasser verbindet alle Dinge.
Langsam verstand ich, wieso Tsireya diese Worte gesagt hatte. Und warum Eywa sie zu mir gesprochen hatte. Mit diesen wenigen Zeilen ist einem schon genug geholfen.
Ich stellte mie vor, wie das Wasser mich durchströmen und dann durch meine Hände in die ganzen Einzelteile fließen und sie dadurch wieder zusammenfügen würde.
Mit geschlossenen Augen konzentrierte ich mich. Ich war noch geschwächt von meiner Aktion mit Neteyam.
Nichts geschah.
Ich konzentrierte mich so fest ich konnte und strapazierte mich mental bis aufs Äußerste.
Nach und nach spürte ich, wie ich mich wieder zusammenfügte. Bis zu dem Moment, in dem es verschwand hatte ich nicht gemerkt, wie rastlos und aufgewühlt ich gewesen war.
Meine übliche Gelassenheit und Ruhe kehrten zurück.

Seufzend konnte ich mich entspannen und mich auf äußere Verletzungen überprüfen. Außer der Tatsache, dass meine Finger die nächsten Tage steif sein würden, ging es mir eigentlich körperlich gut. Nebenbei bemerkte ich auch, dass meine Muskeln sich entspannten. So, wie sie sich jetzt anfühlten, mussten sie eine Weile lang ununterbrochen gekrampft haben.
So viel Last fiel von mir ab, von der ich gar nicht gewusst hatte, dass sie da gewesen war.

Ao'nung x Neteyam Slow BurnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt