Tag 93

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[tw: depressionen, beschreibung von SH]

Neteyam

Mein Kopf spielte verrückt.
Ich wusste nicht mehr, was real war.

Umgaben mich viel zu grelle Farben? Unwahrscheinlich.

Schrie mich Ao'nung grade an und sagte mir, dass ich wertlos sei?
Möglich.

Es trieb mich in den Wahnsinn. Die letzten Stunden - ich wusste nicht einmal, wie lang dieser Zustand schon angedauert hatte - waren schlimmer als alles, was ich jemals erlebt hatte. Sogar schlimmer als sterben und wieder zurückzukommen.

Ich hatte grauenhafte Kopfschmerzen.
Meine Augen fokussierten schon längst nichts mehr.
Am Rande registrierte ich, dass mein gesamter Körper vor Schmerz und Erschöpfung brannte.
Hatte ich mir wehgetan?

Nur bruchstückhaft erinnerte ich mich, dass ich vor Wut versucht hatte, die Tür und Wände einzuschlagen, aber nichts hatte nachgegeben.

Schwankend sah ich auf meine Hände.
Sie waren dunkelrot.
Von meiner Haut war nichts mehr zu sehen, aber sicher war ich mir da nicht.
Im Hintergrund rauschte und piepste es dauernd.

Vollkommen erschöpft legte ich mich auf den Boden - das Bett war von einem seltsamen, bösartig aussehenden Wesen besetzt worden. Still betete ich zu Eywa, dass dieser Alptraum bald enden würde.

Natürlich war dem nicht so.

Egal wie erschöpft ich war, schlafen konnte ich nicht.
Sobald ich meine Augen schloss, wurde alles nur noch schlimmer als es sowieso schon war.
Es war laut, viel zu laut in meinem Kopf und von überall her kamen Stimmen. Kiri, Mom, Dad, Lo'ak, Tuk, Ao'nung... sogar Tsireya. Und sie alle machten mich fertig.
In der Zeit hatte ich öfter geweint als ich jetzt zugeben wollte. Nicht nur anfangs aus Wut jnd Frustration, sondern weil ich emotional bei Weitem nicht stark genug war, um das durchzustehen.

Und so wie ich mein Schicksal kannte, würde mich das noch lang verfolgen und mir immer wieder Probleme bereiten.

Wieso hatte ich auch mit diesen beschissenen Drogen angefangen?
Ich hätte es besser wissen müssen. Dad hat mich vernünftiger erzogen.

Er war mit Sicherheit enttäuscht von mir.
Genauso wie Mom.
Und alle anderen um mich.

Die Schuldgefühle überwältigten mich und wieder einmal rollte ich mich stumm weinend zusammen.

Armselig, wie du daliegst und flennst.
Ao'nung.

So jemanden wie dich will ich nicht als meinen Sohn haben. Du bist schon lang kein Teil dieser Familie mehr.
Dad.

Jeder andere wäre ein besserer Bruder als du es je sein könntest.
Lo'ak.

Du hast mich enttäuscht. Ich hatte Hoffnung in dich, Neteyam te Suli Tsyeyk'itan. Du bist es nicht wert, eine zweite Chance zu bekommen.

Die Stimme konnte ich nicht zuordnen, aber die Worte verletzten mich.
Dann traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht.

Es war Eywa gewesen. Aber war das Einbildung? Wirklichkeit?
Egal. Sie hatte recht.
Ich war es nicht wert, wieder am Leben zu sein. Ich hatte sie und alle um mich herum enttäuscht und ihnen Leid zugefügt.

Meine Augen brannten, als ich halb blind nach einer der unzähligen Scherben griff.
Beim dritten Versuch bekam ich sie zu fassen.

Neteyam.
Schon wieder Ao'nung.
Es wäre für ihn das Beste, wenn ich nicht mehr da wäre. Bisher hatte ich ihm nur Trauer und Schmerz zugefügt.
Ohne mich war er besser dran.

Allein schon diese Scherbe zu halten tat weh.
Die Wunden an meiner Hand waren zum Teil wieder aufgeplatzt und frisches Blut trat aus ihnen hervor.
Aber es könnte mich nicht weniger interessieren.

Das Leben kam mir so sinnlos vor.
Eigentlich brauchte mich doch sowieso niemand.
Lo'ak hatte Tsireya.
Mom und Dad hatten sich gegenseitig und Tuk.
Rotxo würde Kiri helfen.
Und Ao'nung könnte sein Kind mit Beyral aufziehen. Sie müsste es nicht weggeben.

Je länger ich nachdachte, desto weniger wollte ich, dass mich je wieder irgendwer sehen musste. Oder hören. Oder sonst irgendwas.

Der Schmerz ließ mich zusammenzucken, als ich mir mehr oder minder absichtlich tief in meinen Oberschenkel schnitt.
Verschwommen erkannte ich das hellrote Blut, das nach ein paar Momenten aus der Wunde trat. Auf eine seltsame Art fühlte es sich gut an.

Ich hatte es verdient.
So viele hatten wegen mir so viel Mist durchmachen müssen und jetzt trug ich die Konsequenzen dafür.

Neben den ersten Schnitt machte ich einen zweiten.

Und noch einen.

Noch einen.

Irgendwann hatte ich den Überblick verloren, wie viele es inzwischen gewesen sind.

Die Scherbe fiel mir aus meiner zitternden Hand.

Wahrscheinlich war es gut so. Ich hätte ansonsten nicht aufgehört.

Angst machte sich in mir breit.
Vor mir selbst und davor, dass ich jetzt wegen meiner eigenen Dummheit sterbe.

Ao'nung...

Aber woher sollte er denn wissen, dass ich jetzt Hilfe brauchte?

Immer wieder fielen mir die Augen zu, aber ich schlief nicht ein. Zum einen, weil ich nicht konnte und zum anderen weil ich nicht wollte, aus Angst, nicht wieder aufzuwachen.

"Hilfe?", fragte ich, aber ich hörte mich selbst nicht. Hoffentlich hatte mich irgendwer gehört.

Eine Sekunde verging.

Zwei.

Drei.

Die Tür flog auf.

Jemand großes kam auf mich zu und drückte auf meine blutenden Wunden.
Wer war es?

Es wurde gesprochen.

*

"Neteyam?"

"Teyam, bist du wach?"

Achja, Neteyam war ja ich.

"Ja", murmelte ich leise.
Meine Stimme klang unglaublich rau.
Dann umarmte mich jemand fest.
Er weinte.
"Ma'Teyam, ich dachte, wir hätten dich verloren", schluchtzte er.

Wieso verloren?

Dann überrollten mich die Erinnerungen wie eine Flutwelle.

Warum hatte ich das getan?

Niedergeschlagen seufzte ich. "Wie lang war ich weg?"
"Nicht lang. Zehn Minuten vielleicht. Aber es hat sich angefühlt wie Stunden."

Vorsichtig versuchte ich, meine Beine zu bewegen. Brennende Schmerzen breiteten sich aus und ich verkrampfte mich.
Ao'nung sah mich traurig an.
"Wieso?", fragte er mich tonlos.
Ich senkte den Kopf, um seinem Blick nicht standhalten zu müssen.

"Du bist ohne mich besser dran."
"Wie kommst du denn auf den Mist?" Er klang ehrlich verwirrt.
"Dauernd musst du dich um mich kümmern. Erst weil ich fast gestorben bin, dann weil ich tatsächlich gestorben bin und jetzt weil ich mich mit irgendwelchen Drogen zugedröhnt habe. Das muss dir doch langsam echt reichen. Ich meine, ich halte das alles nicht mal selbst aus. Also wieso tust du dir das freiwillig an?"

Er strich mir einen Zopf hinter mein Ohr und lächelte leicht. "Weil ich dich liebe. Ganz einfach." Was könnte ich dagegen noch sagen? Ich war so unendlich froh, ihn zu haben.
"Tut mir leid, Nung. Das Alles. Ich. Meine Dummheit."
Anstatt zu antworten küsste er mich liebevoll. Seufzend zog ich ihn enger an mich und wünschte, dieser Moment könnte ewig sein.

*

[uff leute am mittwoch hab ich mein erstes abi]

Ao'nung x Neteyam Slow BurnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt