01 - Wie das Leben so spielt

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Es war einer dieser Tage, an denen alles schieflief. Es begann bereits vor der Arbeit. Wieso auch immer, hatte sich mein Wecker entschieden nicht zu klingeln. Also kam ich völlig verschwitzt und trotzdem zu spät zur Arbeit.

Doch als wäre das nicht genug, gelang es mir, gleich zwei Tablette an einem Tag fallen zu lassen. Dabei wurde dann leider auch ein Gast mit Kaffee beschüttet, der verständlicherweise nicht wirklich erfreut darüber war, dass sein weißes Hemd nun einen unförmigen braunen Fleck aufwies, welcher sich mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr rauswaschen lassen würde. Bei meinem Glück erst recht nicht.

Nachdem ich besagtem Kunden dann panisch versichert hatte, dass ich ihm das Hemd selbstverständlich ersetzen würde – daraufhin jedoch aus allen Wolken fiel, als dieser mir den Kaufpreis entgegen schrie – winkte er schlussendlich ab. Doch wiederkommen würde er nicht mehr, dessen war ich mir sicher.

Nun stand ich also da und wischte mir selbst die Kaffeeflecken notdürftig von der Schürze. Wieso musste ich auch immer so ungeschickt sein? Alle schafften die Stufe, nur ich stolperte darüber. So war es schon immer. Früher hatte mich meine Mutter ständig verarzten müssen. Und immer wieder hatte ich den gleichen Spruch zu hören bekommen: Bis du heiratest ist alles wieder weg.

Von wegen! Von unzähligen Narben übersät, waren meine Beine noch immer ein Mahnmal für meine Tollpatschigkeit und würden es wohl auch bleiben.

Nachdem meine Schürze nun nass war, aber immer noch den scheußlichen Feck aufwies, beschloss ich mein Schicksal einfach zu akzeptieren und verließ das Bad, um weiter meiner Arbeit nachzugehen. Alles in der Hoffnung, das gesamte Unglück für den Tag voll und ganz aufgebraucht zu haben.

Zurück im Trubel, vermisste ich die ruhigeren Räume der Angestellten, die durch ihre gute Abdichtung eine wunderbar geräuschlose Kulisse boten – zumindest solange man dort allein war.

Ich schnappte mir den kleinen Notizblock und beschloss kurzerhand für heute nur noch Bestellungen aufzunehmen, oder besser sogar, nur an der Bar zu arbeiten. Bedienen konnte dann jemand anderes.

"Hier, die Bestellung für Tisch drei." Ich reichte Max das Tablett über die Theke, bedacht darauf, es so gerade wie möglich zu halten.

Max grinste wissend und schüttelte den Kopf.

"Mach schon", zischte ich.

"Ist ja gut", erwiderte er, immer noch grinsend. Nahm mir aber endlich das Tablett ab und schlängelte sich durch die Masse hindurch, zu Tisch drei.

Anders als mir, gelang es ihm, die Gäste zu bedienen, ohne sie dabei zu beschütten. Beneidenswert. Selbst an guten Tagen schaffte ich es nie durch die Tische, ohne irgendwo anzuecken. Aus diesem Grund war ich eigentlich wirklich talentiert darin, das Tablett zu balancieren. Nur eben heute nicht.

Doch Max sah aus, als würde er auf einer Wolke schweben, so elegant wie er es schaffte sich, mit dem vollbeladenen Tablett, zwischen den Tischen hin und her zu bewegen. Bei ihm sah es so einfach aus.

Kopfschüttelnd widmete ich mich der nächsten Bestellung und hoffte, dass die restliche Arbeitszeit einfach möglichst schnell vorbei gehen würde.

Danach würde ich noch einkaufen müssen, wenn ich etwas zum Abendbrot haben wollte. Aber das war ein später Problem.

"Mel?"

Ich sah auf und begegnete Max abwartendem Blick.

"Ja?"

Wieder sein blödes Grinsen. "Die nächste Bestellung?"

"Mist!" Schnell stellte ich zwei Stück Torte, einen Kaffee, sowie einen Tee auf das Tablett und reichte es ihm über die Theke.

"Konzentrier dich! Der Laden ist überfüllt. Die warten alle!", ermahnte er mich und ich nickte schuldbewusst. Samstag war immer viel los, sodass wir in Akkordzeit bedienen mussten. Also widmete ich mich wieder der nächsten Bestellung, um dieses Mal fertig zu sein, bevor Max zurück war.

Nach Schichtende steckte ich die dreckige Schürze in meinen Rucksack, wechselte die Schuhe und verließ die Angestelltenräume.

"Tschüss", rief ich Max zu, der nun hinter der Theke stand. Dieser nickte zum Abschied, bevor er sich wieder der Arbeit zu wand. Am Wochenende arbeitete er drei Stunden länger als ich. Im ersten Semester hatte er lange nicht so viel zu tun, wie ich im Vierten.

Ich lief bis zur nächsten Kreuzung, dann kribbelte es zu sehr in den Fingern und ich kramte meine geliebte Kamera hervor. Bereits seit Jahren lief ich eher selten ohne sie herum.

Was, wenn der Richtige Moment, das richtige Bild direkt vor mir erschien? Da war keine Zeit die Kamera erst dann hervorzuholen. Bis ich sie in den Händen halten würde, wäre der Augenblick schon verstrichen.

Das könnte ich mir nie verzeihen!

In Gedanken, bei all den schönen Szenen, welche ich bereits eingefangen hatte, vergaß ich alles um mich herum. Und lief dadurch geradewegs in das nächste Unglück.

"Pass doch auf!" Kopfschüttelnd blickte der Alte auf mich herab, hob seinen Beutel auf und entfernte sich, immer noch schimpfend.

"Die Fette...", war das Letzte, dass ich von ihm aufschnappte, bevor er, gemeinsam mit seiner Frau, in die nächste Straße einbog.

Er hatte recht. Heute bewegte ich mich wirklich, als böte der Gehweg lange nicht genug Platz für mich. Es war ein Albtraum.

Ich flüchtete mich in den nächsten Supermarkt, den ich entdeckte, vertrödelte nicht wie sonst die Zeit damit, das bunte Farbenspiel der Regale zu bewundern, und lief auf direktem Weg nach Hause.

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, Erleichterung machte sich breit.

All die peinlichen Momente ließ ich Draußen, hier drin war ich sicher vor ihnen. Zumindest für kurze Zeit. Nachher musste ich das sichere Umfeld wieder verlassen. Es ging nicht anders. Ich hatte den Mädels versprochen zu kommen und ich würde mein Versprechen halten. Egal, wie schrecklich der Tag gewesen sein mochte.

Außerdem hatte ich noch etwas Zeit, um das Pech, das mich heute verfolgte, abzuschütteln.

Mein erster Schritt führte mich unter die Dusche. Es gab nichts Besseres, als all den Stress und die Sorgen, von sich zu waschen. Ein Neustart.

Danach schlüpfte ich in bequeme Klamotten und schnappte mir wieder meine Kamera. Ich entfernte die Speicherkarte und setzte mich an den Laptop. Meine Bilder erschienen auf dem Bildschirm und augenblicklich war ich gefangen. Eingenommen, von all den malerisch schönen Momenten, die ich für die Ewigkeit festgehalten hatte. So grausam und schrecklich mir die Welt manchmal erschien, diese Aufnahmen zeigten mir jedes Mal aufs Neue, wie wunderschön sie doch sein konnte. Neben all dem Leid, dem Kummer, dem Schmerz, existierten Freundlichkeit, Liebe und die Herrlichkeit des Lebens an sich.

Sie war gut, nicht vollkommen, aber doch ein wahres Wunder.

Ich leerte meine Speicherkarte und verlagerte die Zeugnisse dieser wunderbaren Welt auf meinen externen Speicher. Selten bearbeitete ich ein Bild, doch häufig war das gar nicht nötig. In ihrer reinen Form, ohne künstliche Verschönerung, strahlten sie in der Regel am Schönsten.

Die leere Speicherkarte setzte ich zurück an ihren Platz, sodass sie bereit war, mit neuen Momentaufnahmen gefüllt zu werden.

Die gemütliche Stimmung, wurde durch einen Blick auf die Uhr zerstört, wie üblich, hatte ich die Zeit vertrödelt. Daher musste ich mich, wie so oft, beeilen, um noch pünktlich zu kommen.

Ich wechselte schnell meine Klamotten und dankte meinem Ich aus der Vergangenheit, dass sie mir bereits ein Outfit zurechtgelegt hatte. Ich kannte mich schließlich gut – wusste, dass ich gerne die Zeit vergaß.

Die Haare strich ich mir kurz glatt, klemmte die vorderen Strähnen hinter die Ohren, legte etwas Schmuck an und griff nach meiner Tasche. Dann stürmte ich aus der Wohnung.

The last time with herWhere stories live. Discover now