07 - Alte Gewohnheiten

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Draußen war es bereits dunkel, als ich nach einigen Verzögerungen, endlich die Haustür erreichte und ich sehnte mir den Frühling herbei. Die viel zu kurzen Tage deprimierten mich und ich hatte das Gefühl, über den Tag nichts zu schaffen.

Heute war durch etliche Verspätungen der Bahnen sowieso für die Katz. Zwar hatte ich extra den Laptop griffbereit in den Rucksack gepackt, doch die Züge waren so voll gewesen, dass ich keinen Sitzplatz gefunden hatte und gerade so einen Stehplatz ergattern konnte.

"Himmel ist das kalt", fluchte ich leise vor mich hin, als ich die ausgekühlte Wohnung betrat. Vielleicht hätte ich die Heizung doch nicht ganz runterdrehen sollen.

Erst als die Heizungen etwas Wärme abgaben und ich die Hände kurz gewärmt hatte, entledigte ich mich der Winterjacke. Es war jedes Mal ein seltsames Gefühl nach dem Besuch bei Mama und Papa, wieder in meine Wohnung zu kommen. Hier war ich allein – die meiste Zeit mochte ich das. Vor allem die letzten Tage hatte Mama mich sehr umsorgt, jetzt war ich irgendwie erleichtert, dass es vorbei war.

Es war anstrengend ihr die gesamte Zeit etwas vorzuspielen, damit sie nicht merkte, was wirklich in mir vorging und ich war immer noch erstaunt, dass mein Schauspiel nicht aufgeflogen war. Außerdem war ich mir über meine Gefühle dahingehend unsicher – war es Erleichterung, Bedauern, Sehnsucht oder doch etwas ganz anderes, dass ich fühlte? Vielleicht eine Kombination?

Gedankenverloren lief ich im Flur auf und ab, bis ich realisierte, was ich da tat, vergingen einige Minuten. "Reiß dich zusammen, Mel", sagte ich meinem Spiegelbild, als ich den Flurspiegel erreichte.

Was war bloß los? Teilweise hatte ich das Gefühl nicht ganz ich selbst zu sein und dann wieder fühlte ich mich so, als hätte ich gerade erst wieder zu meinem wahren Ich gefunden. Aber da waren einfach immer noch zu viele Gedanken und Gefühle ohne jegliche Ordnung, sodass ich mir über rein gar nichts sicher sein konnte. Die Energie dieses Chaos zu bändigen hatte ich nicht, also musste ich wohl oder übel damit Leben.

Auch jetzt wusste ich nicht, was ich fühlen sollte. Wieder stand ich ihm - meinem Körper - gegenüber und der Spiegel ließ kein gutes Haar an ihm. Er kritisierte und ich glaubte ihm, auch wenn er mich verwirrte. Denn bei jedem Blick erschien ich anders und nur selten war das Urteil eindeutig.

Heute war es fast ausschließlich schlecht. Die Tage nach Mamas Geburtstagsfeier, in denen ich das meiste Essen verweigert hatte und das Erbrechen des Geburtstagsessens hatte offensichtlich nicht ausgereicht. Zumindest hatte es nicht den gewünschten Effekt erzielt. Ich hatte nicht genug getan.

Wie ein Mahnmal, hatte die Sportmatte vor mir gelegen und trotzdem hatte ich sie schlichtweg ignoriert, anstatt die Zeichen richtig zu deuten. Jetzt musste ich die Stunden, in denen ich versagt hatte, wieder gut machen. Besaß ich hier überhaupt eine Sportmatte?

Wahrscheinlich nicht, bei meinem Auszug vor zwei Jahren hatte ich schließlich alles zurückgelassen, was mich an sie erinnern könnte. Geholfen hatte es offensichtlich nicht. Auch was ich diesbezüglich fühlen sollte, wusste ich nicht. War ich froh, wieder zu funktionieren? Hatte ich sie vermisst? Wollte ich all dem wirklich wieder den Rücken kehren? Könnte ich das überhaupt ein zweites Mal?

Ich machte die geübten Posen und betrachtete mich. Eine Sportmatte musste dringend her. Morgen musste ich eh in die Stadt, wegen der Arbeit, dann würde ich einfach noch schnell in den Sportladen gehen, den ich bisher ignoriert hatte. Warum eigentlich?

Als kleines Kind hatte ich gerne Sport gemacht. Ich schüttelte den Kopf und ließ von meinem Spiegelbild ab. Stattdessen kramte ich nach meiner Kamera, um sie für morgen fertig zu machen. Den Koffer würde ich auch noch auspacken müssen, am besten noch heute, sonst würde er hier noch eine Woche herumstehen.

Die Sonne stand hoch, als ich am nächsten Tag auf dem Weg zum Café war. Den Koffer hatte ich, trotz guter Vorsätze, nicht ausgepackt. Er stand also immer noch verloren im Flur herum. Nach Feierabend würde ich ihn auspacken, zumindest hatte ich das vor.

Die Sonnenstrahlen kribbelten auf meiner Haut, daraus resultierte gute Laune, die man später sehr wahrscheinlich in den Bildern, die ich auf dem Weg aufgenommen hatte, erkennen würde. Wieder hielt ich an und hob die Kamera. Das Wetter, stimmte nicht nur mich glücklich, weshalb man an jeder Ecke Szenen, durchzogen von Freude und Liebe, einfangen konnte. Aus der Entfernung konnte ich nicht erkennen, was den vollbärtigen Mann so lächeln ließ, doch durch die Kamera würde dieses Lächeln ewig währen.

Es war eine Sucht, ich konnte die Kamera einfach nicht aus der Hand legen. Wenn ich eine würdige Szene erblickte, musste ich sie einfach festhalten, ganz egal, was ich eigentlich vorhatte oder ob ich unter Zeitdruck stand. Später würde ich es bereuen das Foto nicht gemacht zu haben und dieses Gefühl war tausend Mal schlimmer im Vergleich zu dem des Zuspätkommens.

So auch heute. Es war bereits fünf Minuten nach Schichtbeginn, als ich durch die Tür des Cafés trat. Augenblicklich spürte ich Maxs kritischen Blick auf mir. Doch das war halb so schlimm. Er kannte mich, wusste, dass ich immer etwas zu spät kam und die Zeit dafür hinten dranhängte. Diesbezüglich war ich verlässlich, er konnte sich also darauf einstellen. Jedoch spürte ich nicht nur seinen Blick, da war noch der von Ise, der Inhaberin des Cafés – meiner Chefin.

Mist!

Ich hatte ganz vergessen, dass sie sich für heute angekündigt hatte. Ich nickte ihr kurz zu und verschwand schnell in den Angestelltenräumen. Ich brauchte dringend eine plausible Ausrede, die auch einen wirklichen Entschuldigungsgrund darstellte. Das gute Wetter und die unzähligen wunderschönen Fotos, die ich geschossen hatte, waren da weniger hilfreich.

"Du bist zu spät, Melis." Ises zarte Stimme, hielt sie nicht davon ab eine gewisse Autorität auszustrahlen, welche im gesamten Raum zu spüren war. Langsam drehte ich mich zu ihr. Ise stand mit verschränkten Armen im Türrahmen, die langen, blonden Haare sorgsam zu einem tiefen Dutt zusammengesteckt. Ihr starkes Parfüm erreichte mich, trotz der drei Fußlängen Abstand.

"Ich weiß, Entschuldigung." Meine Stimme zitterte und als ich ihrem Blick nicht mehr standhalten konnte, sah ich beschämt zu Boden. "Ich hänge die Zeit natürlich hinten dran", nuschelte ich, als sie nicht antwortete.

"Melis, ich weiß, dass du etwas ungeschickt bist und du weißt, dass mich das nicht weiter stört, dass es ja trotzdem gut in Kombination mit Maximilian gut läuft. Und auch wenn ich nicht oft hier bin, weiß ich natürlich auch, dass du gerne etwas zu spät kommst. Auch das funktioniert offensichtlich gut und das ist das Wichtigste. Außerdem holst du deine Zeit immer nach, deshalb habe ich kein Problem damit. Also bitte hör auf, wie ein angeschossenes Lamm vor mir zu stehen, mach dich raus und hilf deinem Kollegen." Sie lachte. Natürlich wusste sie es.

Ise war schlau und eine großartige Geschäftsfrau. Was sie bereits alles in ihren jungen Jahren erreicht hatte, konnte ein ganzes Buch füllen. Die Nähe und ihr Verständnis gegenüber den Angestellten, war womöglich eines ihrer Geheimrezepte.

"Melis, worauf wartest du?", sagte sie schmunzelnd. "Danke, Frau Boetger", gab ich schnell von mir und ging an ihr vorbei, um ihrer Aufforderung nachzukommen. "Ihr wisst doch, dass ihr mich Ise nennen sollt. So alt bin ich noch nicht", war das Letzte, dass ich von ihr hörte, bevor die Tür hinter mir zuschlug.

Entschuldigend lächelte ich die Gäste an, die durch das Zuknallen in ihrem Gespräch unterbrochen wurden.

Erst, als sie ihre Blicke wieder von mir lösten und ihre Gespräche wieder aufnahmen, traute ich mich, mich wieder zu rühren und lief hinter den Tresen, um endlich mit meiner Schicht zu beginnen.

"Hier." Max reichte mir einen Berg an Bestellungen, die ich stumm zur Kenntnis nahm. "Hast du Ärger bekommen?", fragte er beiläufig, während er Kuchen auf einem Tablett zusammenstellte.

"Nein, Ise ist zu gütig." Er grinst. "Ja, da hast du wohl recht." Ich konnte nicht anders als erleichtert zu lachen, dann widmete ich mich der Kaffeemaschine.

Ise hatte recht, wir beide waren ein eingespieltes Team und so gelang es uns, schnell die angehäuften Bestellungen abzuarbeiten.

Es war erleichternd sich in die Arbeit flüchten zu können. Einmal kurz all die wirren Gedanken ausblenden zu können. Umso mehr graute mir es davor, wieder nach Hause zu kommen, wo ich wieder allein mit meinen Gedanken, meinem Spiegelbild und dem unberührten Essen in der Küche sein würde.

The last time with herWhere stories live. Discover now