09 - Hand in Hand

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Es war Mitte April und der berüchtigte Monat machte seinem Ruf alle Ehre. Das Wetter wechselte sich ähnlich schnell wie meine Stimmung. Sonne und Regen gingen Hand in Hand, wie die guten und schlechten Tage, die mir alle Kraft abverlangten.

Dabei waren nicht nur die schlechten Tage nervenraubend. Auch die guten stressten mich, denn auf das Gute folgte bekanntlich immer das Nichtgute und das versuchte ich mit aller Kraft zu verhindern. Außerdem war jeder perfekte Tag, jener ohne Fehltritte, eine Herausforderung an mich selbst, ihn am nächsten Tag zu überbieten, damit dieser nicht in einer Katastrophe endete.

Untypischerweise für die Jahreszeit war außerdem mein Schlaf schlechter geworden, was mich zusätzliche Nerven kostete, die ich aktuell eigentlich nicht aufbringen konnte. Wolke Sieben hatte ich lange hinter mir gelassen, dafür wechselte ich jetzt zwischen der harten, kalten Erde und Wolke zehn. Beide in ihrer Intensität auf unterschiedlicher Weise überwältigend.

In welche Kategorie der heutige Tag einzuordnen war, hatte ich noch nicht entschieden. Die Waage und der Spiegel waren am Morgen gnädig gewesen, doch entscheidend war, dass sie es auch am Abend noch waren. Auch inwieweit ich meinen Plan einhalten würde, war entscheidend für das endgültige Urteil.

Die Sportsession kurz nach dem Aufstehen hatte ich bereits abhacken können, doch es wartete noch eine Weitere nach der Arbeit und die andere Thematik, die des Essens, war noch mal eine ganz andere Sache. Ich mied zwar grundsätzlich meine Küche, sowie die Mensa, doch auch ich konnte mich nicht immer davor drücken.

Letzte Woche zum Beispiel hatte mich Julet dazu überredet, sie in das kleine Café gegenüber der Uni zu begleiten. Da sie mitbekommen hatte, dass ich, eben wie sie, noch kein Mittag hatte und sie sich deshalb dort etwas bestellte, musste ich natürlich mitziehen und innerhalb weniger Minuten war mein Plan zunichte gemacht worden. Das die Auswahl an kalorienarmen Essen im Café gleich Null war, machte es nicht besser – oder einfacher. Definitiv ein schlechter Tag.

Die Kamera hatte ich zu Hause gelassen, in letzter Zeit hatte ich ein wenig die Lust daran verloren, sie ständig mit mir herumzuschleppen. Seit etwa einer Woche hatte ich kein einziges Bild mehr geschossen, was vor allem am uncharmanten Aprilwetter lag. Die Umgebung erschien mir so grau und neben den vielen Farben, die ich im März voller Energie festgehalten hatte, erschien alles, was ich aktuell fotografieren konnte, trist und irgendwie einsam.

Es machte einfach keinen Spaß.

Vorm Haupteingang der Uni traf ich auf Julet, die mich grinsend begrüßte. "Hey, du bist ja pünktlich", sagte sie und zog mich in eine Umarmung.

"Ja, irgendwie bekomme ich das ganze pünktlich sein in letzter Zeit besser hin." Wir lösten uns wieder voneinander und betraten gemeinsam das Unigebäude.

"Geht es dir gut?", scherzte Julet. Ich lachte zur Bestätigung, doch es ging mir nicht so leicht über die Lippen wie sonst.

Nicht nur sie und Max witzelten gerne über meinen Persönlichkeitswandel. Ich kam nie gerne zu spät, auch früher nicht, als es noch chronisch war. Das ich mein Leben jetzt gut im Griff hatte sollte eigentlich nicht belächelt, sondern honoriert werden. Doch niemand ging wohl davon aus, dass meine Pünktlichkeit lange anhalten würde – ich sah das etwas anders. Mein Tag war strukturierter und ich deutlich produktiver als in den letzten Jahren zusammen.

"Gehen wir noch mal in die Bibliothek?" Ich wollte dringend noch ein Buch über Szeneninszenierung ausleihen, dass ich für mein Hauptmodul dieses Semester lesen musste. Statt zu antworten, griff Julet nach meinem Handgelenk und drangelte sich mit mir durch den vollen Flur in Richtung der Bibliothek. Drin begrüßte uns heilsame Stille, sowie der Duft alter Bücher, der sich wie eine warme Decke um meine Schultern legte.

The last time with herWhere stories live. Discover now