05 - Der letzte Anker

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"Ist hier noch frei?", krächzte die alte Dame und wies zittrig auf den Platz gegenüber von mir. Ihre Frage war eher rhetorischer Natur, denn bevor ich ihr antworten konnte, saß sie bereits und kramte sich eine Zeitschrift, sowie einen Kuli, aus ihrer Tasche.

Manche Menschen wurden im Alter komisch, aber vielleicht war es auch einfach ihr Wesen.

Abgesehen von den schneeweißen Haaren und einigen wenigen Falten, sah sie noch recht jung aus. Einzig die kratzige Stimme und das Sudoku in ihren Händen, ließen mich sie deutlich älter schätzen.

Ich wand den Blick ab und sah aus dem Fenster. In den letzten Jahren war ich oft ICE gefahren, wenn ich nach Hause fuhr und doch war ich jedes Mal wieder fasziniert, wie die Welt da draußen nur so an mir vorbeizog.

Den Kopf lehnte ich gegen die Scheibe, schloss die Augen und versuchte alles auszublenden. Die alte Dame, den kleinen Jungen, der auf den Sitzen rechts von mir herumturnte und seine Mutter, die ihn geflissentlich zu ignorieren schien. All das schob ich einfach bei Seite, versuchte Ruhe zu finden.

"Melis, kommst du?" Die Stimme von Mama dringt nur sachte durch meine Zimmertür, verleitet dazu sie zu ignorieren. Ich drehe mich zur Wand, ziehe die Kuscheldecke etwas enger. Die Heizung ballert auf fünf, doch sind meine Hände eiskalt - eigentlich immer.

Es klopft an der Tür, wieder höre ich Mamas Stimme und wieder versuche ich sie einfach zu überhören. Ich will nicht nach unten, will mich nicht ihren Blicken aussetzen und vor allem will ich nicht essen. Mama hat bereits gestern gekocht und gebackten, das habe ich gerochen und als ich einmal unten war, habe ich auch gesehen, was sie so gemacht hat. Alles zu viel. Das möchte ich nicht. Es ist zu viel.

Allein beim Gedanken daran, wird mir schlecht. Meine Tür knarzt, als Mama den Raum betritt. Immer noch drehe ich mich nicht um, stelle mich schlafend. Vielleicht klappt es ja, vielleicht muss ich dann nicht runter. Vielleicht. Ihr Hand streift meine Schulter. "Melis, komm, bitte", fleht sie und in ihrer Stimme schwingt eine solche Trauer mit, dass ich erschaudere.

"Melis, bitte, wenigstens zum Mittag. Tante Nicole, Petra und Phil sind auch da. Wenigstens zum Mittag, ja?" Ich nicke müde. "Nur zum Mittag."

"Mensch, Schätzchen, du bist ja dünn geworden." Nicoles Stimme ist ebenso schrill, wie sie selbst. Ich vergleiche sie gerne mit dem Frühling: Tausend Farben, hunderte Gerüche und voller Leben. Sie zieht mich in eine Umarmung, tastet dabei meinen Rücken und meine Schultern ab. "Nur Knochen." Sie schüttelt den Kopf. "Sag mal, was ist denn mit deinem Kind passiert?" Sie hebt die Augenbrauen und sieht zu Mama.

Diese sieht beschämt zu Boden. Nicole anschreien, meine Mama in den Arm nehmen, mich entschuldigen, weinen. All das und so viel mehr, würde ich gerne tun. Doch ich stehe nur da, sage nichts, schäme mich, unzählige unausgesprochene Worte auf der Zunge und ich schlucke sie hinunter.

Was ist nur passiert? Wann bin ich so leer geworden?

"Nun setzt euch doch, das Essen steht nicht nur zur Deko da." Mein Vater steht im Türrahmen zur Küche, an der einen Hand Petra, an der anderen Phil, dessen braune Haare so lang geworden sind, dass er kaum noch sehen kann. Mama nickt und schenkt Papa ein dankendes Lächeln.

Mein Blick fällt auf den Tisch. Bratensoße, Auflauf mit doppelt Käse, ...

"Ihre Fahrkarten bitte." Ich schreckte hoch. Verschlafen rieb ich mir die Augen.

"Die Fahrkarten bitte." Wiederholte die Kontrolleurin ihre Aufforderung. Noch halb in Erinnerungen gefangen, kramte ich die Fahrkarte aus der Tasche und sie setzte ihren Weg fort.

The last time with herWhere stories live. Discover now