06 - Sie kommt näher

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Die Magensäure brannte in meiner Kehle, als ich mir notdürftig mit dem Handrücken die Tränen wegwischte. Es musste so kommen. Ich hatte es bereits geahnt, als ich den gut gedeckten Tisch gesehen hatte. Mit jeder Kelle, die Mama aufgetan hatte war ich diesem Moment einen Schritt näher gekommen. Und jetzt saß ich hier, vor mir die Toilettenschüssel, in der ich vor wenigen Minuten jeden Bissen, den ich genommen hatte, losgeworden war. Trotzdem schrie alles in mir, dass es nicht reichte. Alles sollte raus.

Frustriert klappte ich den Deckel runter und erhob mich. Meine Beine zitterten bei jedem Schritt, den ich in Richtung Waschbecken machte. Es tat weh. Es schmerzte so unglaublich doll, dass ich glaubte jeden Moment zusammenzubrechen. Vor meinen Augen schwebte noch immer das Bild, des gut gefüllten Tellers.

"Melis? Alles gut bei dir?" Sie würde es merken, egal welche Ausrede ich mir einfallen lassen würde. Scham und Hoffnungslosigkeit umgab mich. Ich wollte nicht, dass sie es sah. Wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte.

"Und was haben sie dabei gefühlt?" Aufmerksam fixiert Frau Danze Mama, während ich auf meiner Hälfte der Couch immer kleiner werde. Unsicher sieht sie zu mir. Nicht nur ich fürchte ihre Antwort.

Ich weiche ihrem Blick aus und fokussiere mich auf die unzähligen Wälzer, die hinter Frau Danze das Regal zieren. Sie sind viel zu bunt und knallig dafür, dass ihr Inhalt wahrscheinlich nur aus trockenen Theorien besteht.

"Sie dürfen hier alles sagen. Melis und ich werden danach darüber einzeln sprechen, sie müssen also keine Angst haben." Mama nickt.

Meine Psychologin hat es mal wieder geschafft, einen mit ihrer ruhigen und vertrauensvollen Art zum Reden zu bewegen. Wie sie das jedes Mal aufs Neue schaffte, habe ich in zwanzig Sitzungen noch nicht herausbekommen. Es ist absurd. Abgesehen von den offensichtlichsten Dingen, weiß ich rein gar nichts über Frau Danze, während sie mich wie ein offenes Buch lesen kann.

"Angst. Meistens ist es Angst. Manchmal auch Selbstvorwürfe und Hoffnungslosigkeit." Beschämt sieht sie zu Boden. Frau Danze nickt nur, wie sie es meistens tut.

Hoffnungslosigkeit fühle ich auch. Seit einer gefühlten Ewigkeit renne ich nun schon durch diesen dichten Wald, ohne jemals ein Ende in der Ferne zu erblicken. Nicht mal eine Lichtung. Meine Beine schmerzen und meine Lungen brennen, drohen zu versagen. Ich ersticke.

"Melis?" Sie durfte es nicht wissen.

"Alles gut, ich glaube ich habe was mit dem Magen. Es geht mir schon ein bisschen besser." Eine Lüge.

"Sicher?", fragte Mama skeptisch. "Ja, in der Uni ging auch was rum, vielleicht habe ich mich da angesteckt." Ich zwang mir ein Lächeln auf, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Nur der Badspiegel enttarnte meinen kläglichen Versuch, die Wahrheit zu leugnen.

"Soll ich reinkommen?"

"Nein, es geht wirklich schon besser, ich muss mich nur hinlegen und etwas ausruhen", antwortete ich schnell und sah mit pochendem Herzen zur Tür. Hatte ich abgeschlossen?

"Gut, nimm dir Zeit, ich bringe dir nachher einen Tee vorbei, okay?"

"Ja, danke Mama." Erleichtert ließ ich die Schultern fallen, als sich ihre Schritte entfernten. Lügen über Lügen, alles zu ihrem Schutz, trotzdem plagte mich das schlechte Gewissen.

Es war nicht das erste Mal, dass eine Familienfeier wegen mir frühzeitig beendet wurde. Dass es heute erneut so gekommen war, ließ mich nur noch mieser als ohnehin schon fühlen.

"Melis?" Mamas Hand berührt meine linke Schulter. "Hm?" Ich versuche ihr in die Augen zu sehen, versuche meinen Blick zu klären.

"Wo warst du gerade?", ihre Stimme zittert, die schönen brauen Augen glasig.

The last time with herWo Geschichten leben. Entdecke jetzt