11 - Mit Eiserner Hand

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Frustriert schloss ich Instagram und legte das Handy beiseite.

Julet hatte in ihrer Story ihren Sushiteller geteilt. Sie war gemeinsam mit den anderen heute Essen. Ich hatte unter dem Vorwand krank zu sein abgesagt. Es war besser so.

Nach Helens Geburtstag folgte der vorhergesehene Absturz. Es war kaum aushaltbar. Die Waage hatte am nächsten Tag, wie erwartet, einiges mehr angezeigt. Das war keine Überraschung gewesen. Es war der Cupcake. Natürlich hätte ich mit etwas der Gleichen rechnen sollen. Ich wusste ja, dass Helens Geburtstagsfeier voller Versuchungen sein würde und ich nicht drum herum kommen würde Sünde zu begehen. Ich hätte einfach zu Hause bleiben sollen, doch ich habe nicht auf mein Bauchgefühl gehört und war am nächsten Tag bestraft worden.

Einen weiteren Ausrutscher konnte ich mir nicht erlauben.

Ich drehte mich zur Wand und zog die Beine enger an meine Brust. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst, wäre einfach verschwunden – mitsamt all meinen Problemen.

Dieser verdammte Cupcake! Er hatte alles zerstört. Meinen Fortschritt, mein Leben. Aber ich war selbst Schuld. Ich hätte es wissen müssen.

Ein Seufzer verließ meine Lippen, bevor ich mich aufraffte und das warme Bett verließ. Es war Zeit für die dritte Sporteinheit. Danach musste ich noch etwas Uni erledigen, die in den letzten Tagen viel zu kurz gekommen war. Doch irgendwie musste ich den Rückschlag wieder ausgleichen und so hatte ich meine Zeit für Sport genutzt. Morgen musste ich außerdem wieder Arbeiten, zwei Schichten hatte ich bereits geschwänzt. Max war sicher sauer, verdenken könnte ich es ihm nicht. Das Café war aktuell viel zu voll, um die Arbeit allein bewerkstelligen zu können.

All diese Probleme, wegen eines verdammten Cupcakes. Helen hatte es nur gut gemeint. Wieder ein Seufzen, dann voller Einsatz. Ich musste schwitzen, meinen Rückschritt aufholen, voran kommen und es besser machen. Wenn ich ihn doch bloß aus meinem Kopf bekommen würde. Er begleitete mich, sein Abbild kam immer wieder vor meine Augen, quälte mich und motivierte mich gleichzeitig, noch etwas mehr zu geben und die Sporteinheit zu einem Erfolg werden zu lassen. Danach ein Spaziergang zum Entspannen.

Ich liebte es, dass die Sonne später unterging und ich den Sonnenuntergang beobachten konnte. Die Kamera hatte ich auf dem Bett liegen lassen, also genoss ich den Anblick allein. Meine Freundinnen werteten ihre Woche aus, genossen die Zeit zusammen. Morgen würde ich Helen fragen, was ich verpasst hatte. Das nächste Mal konnte ich wieder dabei sein, wenn nicht wieder ein blöder Cupcake dazwischen funkte. Hoffen war erlaubt.

Ausgelaugt fiel ich, kaum in der Wohnung angekommen, in mein Bett. Morgen musste ich früh raus, also verschwendete ich keine Zeit und ging, nach einer ausgiebigen Dusche, schlafen.

Es war fünf Uhr, als mein Handywecker mich unsanft aus dem Schlaf riss. Der Cupcake hatte mich bis in den Schlaf verfolgt und ich verfluchte ihn erneut. Nicht mal im Traum hatte ich meine Ruhe.

Nach meiner ersten Sporteinheit und einer kalten Dusche, machte ich mich auf den Weg ins Café. Ich lag gut in der Zeit und so konnte ich den Sonnenaufgang genießen. Ein so alltäglicher Prozess und doch immer wieder atemberaubend schön. Ich könnte ein Leben damit verbringen, der Sonne beim Auf- und Untergehen zuzuschauen. Vielleicht ab und zu noch Bilder schießen und der Frieden wäre perfekt.

Die Realität sah leider anders aus: Der Arbeitsverkehr, gepaart mit Abgasen und einem nicht enden wollenden Piepen irgendeiner Alarmanlage, zerstörten die Idylle. Alles in mir schrie danach, sich einfach die Ohren zuzuhalten und davon zulaufen, so weit weg, wie nur irgend möglich. Doch meine Beine trugen mich weiter Richtung Café.

Dort wartete bereits Max auf mich. Wie erwartet, sah er nicht gerade begeistert aus. So fiel ihm auch nicht auf, dass ich überpünktlich war.

"Ach, wir lassen uns auch mal wieder blicken?", fragte er. Dabei schwang dermaßen viel Ironie mit, dass ich unter seinen Worten zu ersticken drohte.

Sauer hatte ich ihn noch nie erlebt. Max war immer gut gelaunt, mit einem Lächeln auf den Lippen, sei es nur, um den Kunden ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern, und stets einen Witz auf der Zunge. Davon war heute nichts zu sehen.

"Es tut mir leid", gab ich leise von mir. Ich meinte es ernst, doch in meiner Stimme hatte sich eine härte eingeschlichen, die selbst mich überraschte. Es musste der Stress der letzten Tage gewesen sein, das schlechte Gewissen, das mich noch immer auslaugte. Dieser dumme Cupcake zerstörte mir nun auch mein Verhältnis zu Max. Wie sehr ich diesen Tag bereute.

Decke über den Kopf ziehen, leise und still sterben.

Ich betrat die Angestelltenräume, suchte dort Schutz, um mich zu sammeln, mein Fake-Lächeln für die Kunden zu üben.

Aber Max gönnte mir keine ruhige Minute, er folgte mir und blieb mit verschränkten Armen im Türrahmen zum Ankleideraum stehen. "Was ist los?"

"Nichts." Meine Standardantwort.

Doch bei Max zog das nicht. "Melis, um auf diesen Bullshit reinzufallen, kenne ich dich schon zu lange. Was ist los?" Auf seiner Stirn bildeten sich leichte Falten, eben wie unter seinen Augen. Seine Augenringe sprachen ebenfalls für sich. Die letzten Tage müssen auch für ihn anstrengend gewesen sein.

Das schlechte Gewissen ließ mich seufzen und ich setzte mich auf den kleinen Sessel in der Mitte des Raumes. Ich hatte versagt – schon wieder. "Es tut mir leid", wiederholte ich die Worte von eben. Dieses Mal klangen sie ehrlicher.

Max lächelte zaghaft. "Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst. Dir ging oder geht es nicht gut, sonst hättest du mich nie allein gelassen."

Da war es wieder. Das Gefühl von Sicherheit, dass ich in diesem Ausmaß eigentlich nur in Max Nähe spürte. Es war gefährlich. Mich ihm zu öffnen würde nur weitere Probleme hervorrufen, dennoch war ich kurz davor einfach alles ungefiltert aus mir raussprudeln zu lassen.

Max war gefährlich.

"Sei mir nicht böse, aber ich will da jetzt wirklich nicht drüber reden. Nicht mit dir!" Meine Worte klangen hart und mein Herz krampfte, doch sie waren notwendig. Anders würde er nicht locker lassen. Ich musste ihn verletzen, um mich zu schützen. Er durfte es nicht wissen. Dazu war ich lange nicht bereit, weder bei ihm noch bei irgendjemand anderem. Das musste ich allein bewältigen und selbst dafür würde ich etwas Zeit brauchen.

Ich erwartete Resignation oder ebenso harte Worte, wie ich sie gesprochen hatte. Ich erwartete, dass er zurück fauchte, mir gab, was ich verdiente, dafür, dass ich ihn unfair behandelte. Aber Max überraschte mich – mal wieder.

Er blieb ruhig, auch in seinen Gesichtszügen, in seinen Augen, war keinerlei Zorn zu finden. "Das ist okay. Sprich mit wem du willst über das, was dich bewegt. Ich bitte dich lediglich, dich jemandem zu öffnen. Das muss nicht ich sein. Ich möchte nur das du weißt, dass ich da wäre, falls du es dir anders überlegst oder jemanden brauchst."

Die Bestimmtheit seiner Worte und die ruhige Art seiner Stimme hinterließen tiefe Risse in den Mauern, die ich um mich herum erbaut hatte. Wieder war ich kurz davor, ihm einfach alles zu erzählen – mich ihm zu öffnen. Ihm vom verdammten Cupcake zu erzählen und meinem Leid in den letzten Wochen. Das ich wieder gegen mich arbeitete und genau das absurderweise ein wenig genoss.

Doch Max war jemand, der ein "Nein" akzeptierte, ebenso, wie meinen gewünschten Freiraum. Und so verließ er die Angestelltenräume und widmete sich seiner Arbeit, die er bereits viel zu lange für mich vernachlässigt hatte.

Angst, Trauer, Sehnsucht und ... Freude. Tausend andere Gefühle, vermischt mit unzähligen Gedanken, bildeten einen undurchsichtigen Nebel in meinem Kopf, bis scheinbar nichts mehr übrig war. Keine Gefühle, keine Gedanken – Leere, die sich ähnlich erdrückend anfühlte, wie das Chaos zuvor.

Der blinde Fokus war zurück, er lenkte mich, er gab vor, was ich zu tun hatte, sodass ich keine Energie dafür aufwenden musste – nur ihm folgen.

Ich zog mir die Schürze über, verließ den Ankleideraum und begann mit meiner Schicht. Nur weiter Folgen, meine Aufgaben erfüllen, nicht denken, mich leiten lassen. Dann konnte mir nichts passieren, dann stand meinem Glück nichts im Weg.

Leere mochte erdrückend sein, doch war sie auch erholsam und manchmal einfacher, ruhiger. In der Leere konnte ich atmen, hier konnte ich klar sehen und musste nicht mehr rennen.

The last time with herWo Geschichten leben. Entdecke jetzt