15 - Niemals ohne sie

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Beinah hätte ich mir ins eigene Bein geschossen. Beinah hätte ich alles, was ich in den letzten Monaten erreicht hatte, weggeworfen. Fast hätte ich aufgegeben.

Doch nun saß ich bei Helen am Tisch und sah ihr dabei zu, wie sie versuchte ein Toast zu essen, ohne es direkt wieder auszuspucken. "Sicher, dass du nichts willst?", fragte sie müde. Dabei starrte sie leicht angeekelt ihr Buttertoast an.

"Nein, ich esse gleich bei mir. Ich habe noch was im Kühlschrank, das leer werden muss." Wieder eine Lüge. Allerdings Notlüge, schließlich sollte heute ein guter Tag werden, oder wenigstens ein nicht ganz so mieser wie gestern. Hoffen war erlaubt. In der Verzweiflung war ich kurz aus der Leere aufgetaucht, jetzt wollte ich nichts lieber als noch tiefer in ihr versinken. Nur das brauchte ich.

"Wieso warst du gestern hier?", fragte Helen nahezu flüsternd. "Tut mir leid, ich weiß leider gar nichts mehr." Sie lächelte entschuldigend.

"Alles gut, das konnte ich mir fast denken. Ich war in der Nähe und da habe ich dich gesehen." Ich tischte ihr dieselbe Lüge wie gestern auf. Erbärmlich, aber erstaunlich einfach. Generell fiel es mir immer leichter, sodass ich meine Flunkereien schon selbst glaubte.

Zumindest wollte ich das. Alles andere war zu niederschmetternd. Mein gestriges Versagen wollte ich schnellstmöglich vergessen. Es war nie passiert – daran musste ich nur fest glauben, dann entsprach es der Wahrheit. Ich war nur in der Nähe gewesen. Heute wird ein guter Tag.

"Achso. War ich sehr schlimm?" Ihre Stimme war kratzig, eine weitere Nachwirkung des Alkohols.

"Nein, nur etwas wackelig auf den Beinen, aber das wars. Vielleicht fragst du besser die anderen, die wissen bestimmt mehr."

Sie nickte langsam. "Mmh."

Ich verabschiedete mich von Helen, damit sie sich wieder hinlegen und ihren Kater ausschlafen konnte, lief an der Straßenbahnhaltestelle vorbei, in Richtung meiner Wohnung. So konnte ich mich gleich etwas bewegen. Eine kleine Wiedergutmachung für den Totalausfall gestern.

Alles, damit heute ein guter Tag werden würde. Die Gedanken, welche mich schließlich zu Helen geführt hatten, erschienen mir schier absurd. Wieso wollte ich all das aufgeben? Ein schrecklicher Gedanke. Hätte ich mir in diesem Moment selbst in die Augen geblickt, würde ich das erkennen, was ich bei anderen am meisten fürchtete: Enttäuschung.

Zu Hause angekommen, startete ich ohne Umschweife mit meiner Routine. Einerseits fühlte ich mich dadurch sicher, andererseits wollte ich es mir selbst beweisen. Ich war stark genug, ich würde das durchziehen – weiter kommen als je zuvor. Nach dem Sport und einer erfrischenden Dusche, folgte Uni auf meinem Plan. Ich hatte einiges Nachzuarbeiten und meine Kamera musste ich dringend säubern.

Ich war erstaunt, wie leicht es mir fiel, nach meinem Absturz so schnell in die Routine zurückzufinden. Als wäre gestern nicht der schlimmste Tag seit einer Ewigkeit gewesen.

Als hätte sich der Schalter, der in die falsche Position gerutscht war, wieder umgelegt, sodass die Leere Stück für Stück zurück zu mir fand. Ich spürte sie, wie sie mich langsam wieder umgab.

Wie eine wärmende Dusche, strömte sie von meinem Kopf nach und nach bis hinunter zu den Zehen, sodass sie mich schließlich ganz umhüllte und ich wie in Watte gehüllt war. Sicher und geborgen, geschützt vor all der Dunkelheit da draußen. Mein eigener kleiner Kokon, der mich vor dem Bösen abschirmte und mir erlaubte, starr meinen Plänen zu folgen. Warum um alles in der Welt hätte ich das aufgeben wollen?

Gegen späten Nachmittag musste ich meinen Lernsprint unterbrechen. Ich war zur Spätschicht eingeteilt worden.

Pünktlich fünf nach Vier betrat ich das Café. Max war bereits da und nickte mir zur Begrüßung kurz zu, bevor er sich wieder der älteren Dame an Tisch fünf widmete. Ich warf mir schnell meine Schütze über und band meine Haare in einen Zopf. Mit breitem Grinsen betrat ich wieder den Verkaufsraum und ich wurde nicht enttäuscht.

"Endlich mal wieder der Stiezzopf", sagte Max lachend und spielte mit meinem Pferdeschwanz. "Ich habe ihn schrecklich vermisst!" Stiezzopf. Aufgrund meiner Haarlänge konnte ich nur geradeso einen Zopf mit ihnen binden. Die Haarspitzen bogen sich dann etwas wirr um dem Zopfgummi.

Als Max an meinem zweiten Arbeitstag diese Frisur das erste Mal gesehen hatte, war er in Gelächter ausgebrochen und ihn Stiezzopf getauft. Ab diesem Tag habe ich öfter Zopf getragen. Mir gefiel es, wie sich Max darüber freute. Der heutige Tag hätte nicht besser laufen können. Zwar war da noch die tiefe Enttäuschung, doch sie lähmte mich nicht. "Und du lachst wieder, ist heute mein Glückstag?" Ich schob mich an ihm vorbei, um hinter die Theke zu gelangen. "Witzig."

Er folgte mir. "Das war nicht ..."

"Ich weiß."

"Aber du lachst nicht mehr", sagte er bedrückt.

"Dann sag mir nochmal, wie mein Zopf heißt", erwiderte ich, versucht möglichst ernst zu schauen. Mein Plan ging auf: Max grinste über beide Ohren, griff wieder nach meinen Haaren und sagte: "Du meinst Stiezzopf?" Ich lachte, sodass sich ein paar der Gäste zu uns umdrehten, doch das störte mich nicht. Ich war glücklich, fühlte mich sicher und angekommen. Alles dank des betäubenden Rausches der Leere, für die ich nicht dankbarer hätte sein können.

Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn Helen nicht feiern gewesen wäre. Wahrscheinlich wäre ich so tief gefallen, dass mich nicht einmal die Leere dort wieder herausziehen könnte. Doch das Schicksal war auf meiner Seite, Helen hatte über den Durst getrunken und ich konnte weiter schweben. Jetzt würde ich ohne Kompromisse folgen.

"Ich mag es, wenn du lachst." Max lehnte sich gegen die Theke und studierte einen der Bestellzettel. "Und ich mag es über deine Witze zu lachen", verkündete ich und sah über seine Schulter auf die Bestellung. "Was brauchen wir denn?"

"Drei Kaffee mit Hafermilch und zwei Stück Kuchen." Ich nickte und griff nach drei Tassen.

"Huhu, Melis."

"Gib die mir, ich mache das schon", sagte Max und nahm mir die Tassen ab. Der Moment war vorbei. "Hey, Carla, ich wusste nicht, dass du mich heute besuchst." Ich schenkte meiner Freundin ein Lächeln, doch es war nicht halb so echt, wie das für Max. Carla erinnerte mich an mein Versagen, sie war auch mit im Club gewesen.

"Ja, eigentlich hatte ich es auch nicht vor, doch nach gestern musste ich mich unbedingt Erden und da hat es mich in die Buchhandlung getrieben. Jetzt habe ich fünf neue Bücher", sie hob demonstrativ ihren prall gefüllten Beutel, "die dringend gelesen werden müssen."

"Achso", kommentierte ich gleichgültiger als beabsichtigt. "Dein Tisch ist noch frei. Wie immer?"

"Genau", sagte Carla schmunzelnd und ging zu ihrem Stammplatz, während ich ihr einen großen Kaffee mit Sojamilch und viel Schaum zubereitete. Als ich ihr diesen an den Tisch brachte, war sie bereits in ihr Buch versunken.

Den Rest der Bestellungen arbeiteten Max und ich im Team ab und ehe ich mich versah, war Ladenschluss - wir blieben allein zurück. "Ich mache das Radio ein wenig lauter", verkündete Max und griff zur Fernbedienung. "One look at you and I cant disguise ...", sang er leise und zappelte etwas unbeholfen im Takt mit, während er das dreckige Geschirr von den Tischen auf seinem Tablett sammelte. "Los hilf mir!" Er lachte. Hitze stieg mir in die Wangen, ich hatte mich keinen Zentimeter bewegt – gefesselt von seiner kleinen Showeinlage.

"Klar", stammelte ich nur und verschwand hinter der Theke, dort war ich wenigstens halbgeschützt und konnte mich ablenken. Ich griff nach einem Lappen und wischte die Geräte sauber, mein Blick fiel jedoch ohne dass ich es verhindern konnte, immer wieder auf Max. Was sollte das? Die Kaffeemaschine, einfach die Kaffeemaschine sauber machen! Woher kam diese Gefühlsüberflutung? Es war, als spürte ich plötzlich alles und ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel. Nichts fühlen war einfacher! Und weniger verwirrend. Vielleicht war es die Übermüdung, ich hatte wenig geschlafen, oder Nachwirkungen der gestrigen Verzweiflung.

"Ich glaube die ist sauber."

"Was?" Ich begegnete Max Blick, seine grünen Augen musterten mich amüsiert. Verdammt, ich wollte sie unbedingt mal fotografieren, sie waren wie gemacht dafür. Heute Morgen war mir allerdings nicht danach, weshalb meine Kamera auf meinem Bett lag, also keine Bilder.

"Die Kaffeemaschine, ich denke, sie ist sauber."

"Ja, klar." Ich nickte schnell und wand mich ab, um den Lappen auszuwaschen. "Wir sollten uns beeilen", sagte ich und flüchtete mich zu den Tischen, die dringend abgewischt werden mussten.

The last time with herWo Geschichten leben. Entdecke jetzt