08 - Ein Gefühl der Stärke

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Tausend Gedanken ertränkten mich, als ich das Café verließ und auf den überfüllten Gehweg schritt. Während der Arbeit hatte ich sie beinah vollständig ausblenden können, nun lagen sie schwer auf meinen Schultern, zogen mich gen Boden.

Mit aller Kraft setzte ich einen Fuß vor den anderen und bewegte mich mit der Masse in Richtung Stadtzentrum. Doch statt an der Ecke abzubiegen, um dem Weg zu mir nach Hause zu folgen, ging ich weiter gerade aus. Auf dem Marktplatz hatte letzte Woche ein neues Sportgeschäft aufgemacht und wie selbstverständlich trugen mich meine Beine dorthin.

Allein die Vorstellung später die Gedanken von gestern Abend umzusetzen und endlich wieder Sport zu machen, beflügelten mich derart, dass es meine Schultern entspannen ließ.

Die Glastüren öffneten sich automatisch und ich betrat das frisch sanierte Geschäft. Umringt von unzähligen Sportutensilien, erstarrte ich auf der Stelle. Was brauchte ich alles? Womöglich mehr als nur eine Sportmatte, denn ich konnte mich nicht dran erinnern überhaupt nur eine Sporthose zu besitzen.

Die fröhlich flötende Stimme der Mitarbeiterin befreite mich aus der Starre. "Suchen sie etwas Bestimmtes?"

Luan Steller stand in Druckbuchstaben auf dem kleinen Schildchen knapp über ihrer Brust. Sie trug Sportklamotten und stellte so ihren durchtrainierten Körper zur Schau. Beschämt zog ich den Mantel enger.

Da war es wieder, die stille Aufforderung, dass ich definitiv Sport machen sollte. Wie konnte ich das offensichtliche so lange ignorieren und nicht sehen, dass ich meinen Arsch hochkriegen musste. Ich hatte mir immer eingeredet, dass der Weg zur Uni und die Arbeit im Café genug Sport waren, doch der Spiegel und Luan bewiesen etwas anderes.

"Ähm ... ich bräuchte einmal die komplette Ausstattung", gab ich kleinlaut von mir. Ich schämte mich, so sehr, dass ich am liebsten wieder umgedreht wäre, wenn mich zu Hause nicht der richtende Spiegel erwartet hätte.

Ich musste etwas ändern und hier war der erste Schritt, den ich erledigen musste. Der nächste wäre dann Anfangen, doch dazu würde mich allein der Gedanke an das Essen in meiner Küche zwingen.

"Alles also." Luan musterte mich abschätzig. "Was wollen sie denn für Sport machen?", flötete sie weiter. Dabei war ihr aufgesetztes Lächeln so zuckersüß, dass mir übel wurde.

"Zu Hause", stammelte ich, immer noch irritiert von ihrem Sixpack. "Sie wollen Homeworkouts machen?" Ich nickte. "Gut, folgen sie mir bitte."

Ich verließ das Sportgeschäft mir zwei prall gefüllten Tüten. Luan hatte mir neben Sporthosen und -tops, wie einer Sportmatte auch verschiedene Hanteln und Stretchbänder angedreht. Da ich leider unfähig war nein zu sagen, hatte ich jeden ihrer Vorschläge mit begeistertem Nicken angenommen und war nun um mehrere Hunderteuro ärmer.

Als mich meine Beine so zielsicher in das Geschäft geführt hatten, hatten sie nicht daran gedacht, dass es sich um ein Markenträger handelte, der sich für genau diese Marke auch teuer bezahlen ließ. Trotz dieser Tatsache hatte mich der Einkauf sehr motiviert, und die tausend Pläne zu verschiedensten Sportroutinen beflügelten mich, sodass ich das Gewicht der Tüten auf dem Nachhauseweg nicht einmal spürte.

Die Wohnungstür fiel kaum hinter mir ins Schloss, als ich schon halb im Bad stand, um die Hände zu waschen. Ein kurzer Blick in den Spiegel, dann zurück zu den Tüten, die Sportklamotten auspacken, Schilder entfernen und in die Wäsche. Die Sportmatte rollte ich vor meinem Bett aus, sie füllte den letzten freien Raum zwischen Schreibtisch, Bett und Kleiderschrank, doch das war genug Platz.

Die Hanteln und Bänder legte ich erstmal neben die Matte. Wie elektrisiert holte ich meinen Laptop hervor und suchte nach passenden Workouts. Im Kleiderschrank fand ich eine alte Leggins, die ich sicher seit Jahren nicht mehr getragen hatte und ein weites T-Shirt. Das würde ausreichen, bis die Sportklamotten gewaschen und getrocknet waren.

Wie lange ich meine Fitness wirklich vernachlässigt hatte, merkte ich nach den ersten Minuten des Workouts – ich war schon jetzt völlig außer Atem, obwohl ich noch etwa achtzehn Minuten vor mit hatte. Außerdem wollte ich eigentlich mehr als nur eines machen, doch nach dem ich bereits weit vor Ende des ersten am Kollabieren war, würde daraus wohl nichts werden.

Mit einigen kurzen Pausen brachte ich schließlich das Workout zu Ende und ließ mich erschöpft auf die Sportmatte fallen. Ich hatte definitiv einiges die nächsten Wochen vor, ich musste dringend mehr trainieren.

Es zahlte sich aus.

Die nächsten Wochen folgte ich strikt meinem erstellten Sportplan und schaffte so immer längere Workouts ohne große Probleme. Auch der Spiegel schien Tag für Tag gnädiger mit mir zu sein und war er es einmal nicht, hängte ich einfach eine weitere Einheit hinten dran.

Durch die Fortschritte fiel es mir auch einfacher mich zu kontrollieren. Immer noch mied ich die Küche, doch der Gedanke an Essen bereitete mir lange nicht mehr so viele Kopfschmerzen wie zuvor. Schließlich hatte ich nun ein Ventil, etwas zum Kompensieren.

Durch meine Adern floss pure Energie, ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal ähnlich stark gefühlt hatte. Es war berauschend. Nichts konnte mich von diesem Höhenflug abbringen, wenn ich nur meinen Plan weiter verfolgte.

Außerdem hatte die Uni seit zwei Wochen wieder begonnen, ich hatte also drei Möglichkeiten, mich von meinen Gedanken abzulenken: Lernen, Arbeit und Sport. Wobei letzteres mein liebstes Mittel war.

Während der Vorlesungszeit klingelte mein Wecker immer etwas früher, auch heute. Es war Mittwoch, also würde ich nachher noch ins Café gehen. Müde rieb ich mir die Augen, überwand dann aber den Drang mich noch einmal umzudrehen und stand auf. Vor der Vorlesung wollte ich noch eine Sporteinheit machen, nach der Arbeit würde ich zu fertig dafür sein.

Nach dem Sport und einer kurzen Dusche war ich deutlich wacher. Das ich nach der einzigen Vorlesung heute, nur noch das Fotoseminar hatte, motivierte mich zusätzlich.

Meine Anzughose hing locker, was ich dem regelmäßigen Sport zu verdanken hatte. Auch mein Selbstbewusstsein war etwas dadurch gestiegen – zumindest bildete ich mir das ein.

Aber auch meine Tagesstruktur hatte sich seitdem verbessert. Ich war deutlich produktiver und überraschenderweise war ich auch lange nicht mehr so unpünktlich wie man es eigentlich von mir gewohnt war. Deshalb hatte ich einige verwirrte Blicke von Max geerntet, als ich die letzten Wochen nicht die üblichen fünfzehn Minuten zu spät durch die Ladentür schritt.

Allein für den Blick hatte es sich jedes Mal aufs Neue gelohnt.

Mit der Kamera in der Hand verließ ich auch heute pünktlich die Wohnung und machte mich auf dem Weg zum Campus. Wenn ich die Zeit nicht zu sehr beim Fotoschießen vertrödelte, würde ich es sogar noch kurz in die Bibliothek schaffen.

Draußen empfing mich warmer Frühlingswind und mein Glück war augenblicklich vollkommen. Das einzig schöne an Herbst und Winter waren die wunderbare Kulisse für Bilder, aber die gab es auch im Sommer und vor allem im Frühling. Dieser stand für mich, gemeinsam mit dem Sommer, für Leben und gute Laune. Mit Wärme kam ich außerdem besser klar als mit der Kälte, somit waren die Monate von April bis August die schönsten für mich. Die meisten meiner Lieblingsbilder entstanden auch in diesem Zeitraum.

Das war heute nicht anders. Seit Wochen hatte ich keine vergleichbaren Fotos gemacht. Nicht nur die Menschen waren vom Frühlingsfieber gepackt, auch Natur und Tiere.

So erwischte ich drei Blaumeisen, die in einer winzigen Pfütze plantschten und zwei Dackel, die auf der grünen Wiese im Park herumtollten. Mein Lieblingsbild für den heutigen Tag zeigte jedoch eine Ansammlung an Osterglöckchen, die sich der Sonne zuwandten und dabei wunderbar gelb strahlten.

Ich schwebte auf Wolke sieben und war der festen Überzeugung, dass mir nichts und niemand hier etwas anhaben könnte.

The last time with herWhere stories live. Discover now