Kapitel 1

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Ich musste zweimal hinsehen, als ich an diesem tristen Herbstmorgen die Einkaufsstraßen meiner Heimatstadt entlang schlenderte.

Das Wetter war zu dieser Jahreszeit entsprechend schlecht und trotzdem tummelten sich unzählige Menschen auf den Straßen von Boston. Die stolzen betagten Männer zogen ihre Hutkrempe schützend vor den Regen tief ins Gesicht, während die junge Generation einen Schirm aufspannte, um nicht nass zu werden.
Ein mir nur allzu gut bekanntes Spiel zwischen Jung und Alt, welches ich mir unzählige Male schon angesehen habe. Und trotz dieser jahrelanger Routine, war dieser Tag anders.

Über dem Meer aus Schirmen hinweg, erblickte ich in der Menge ein mir gut bekanntes Gesicht.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern beschleunigte ich meinen Schritt und schlängelte durch die dichte Menschenmasse - sie nicht aus dem Auge verlierend.

»Hey! Was soll das?!«, brüllte ein Mann unter seinem Schirm hervor, nachdem ich ihn unsanft zur Seite stieß, wodurch er in eine Pfütze trat, was seine fein gebügelte graue Anzugshose dunkel einfärbte.

Für eine Entschuldigung hatte ich keine Zeit. Ich drängelte und schubste immer weiter durch die dichte Menge, nur um mich nicht von ihr abhängen zu lassen.
War es wirklich möglich gewesen oder bildete ich es mir nur, wie schon unzählige Male zuvor, ein.

Ich schaffte es ihr bis zu einer Kreuzung zu folgen, ehe sich das schönste Gesicht, was ich je gesehen habe, in der Traube aus Menschen auflöste.
Missmut machte sich in mir breit. Schon so lange wartete ich auf diesen Moment, der nun wieder so enttäuschend endete.

»Ein anderes Mal, mon coeur«, flüsterte ich also kaum hörbar und machte mich zurück in die Richtung aus der ich kam.

Verärgerte Blicke von jenen, die ich eben noch wegschubste, trafen mich und ich könnte wetten, dass ich auch ein gemurmeltes »Arschloch« gehört hatte. Unter anderen Umständen hätte ich mich wahrscheinlich schlecht gefühlt, in dieser Situation überwog aber meine Niedergeschlagenheit. 

Mit hängendem Kopf ging ich also die Straße entlang und musste erneut zweimal hinsehen.
Da! In einem kleinen Café, keine 50 Meter von dem Ort entfernt, wo ich dachte, dass ich sie zuletzt gesehen habe, saß sie nun und trank Kaffee.
So unauffällig, wie mir möglich war, lugte ich noch einmal durch das große Schaufenster, um mich zu vergewissern. Ja! Da war sie wirklich - nach all den Jahren!

Ein kleines Glöckchen über der Tür bimmelte sanft, als ich das Café betrat. Sofort stieg mir der altbekannte Duft von Kaffee in die Nase, was mir gleich ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
Ich mochte noch nie so richtig den Geschmack von dem dunklen Gebräu - sie allerdings trank ihn schon seit einer sehr langen Zeit.
Typisch, dachte ich stumm und machte mich auf den Weg zur Theke, um mir etwas zu bestellen.

Nicht nur sie hatte heute das Gefühl sich vor dem Regen in eines der unzähligen Lokale der Bostoner Einkaufsstraßen flüchten zu müssen, wodurch es ziemlich voll in dem überschaubaren Laden war.
Besser hätte es für mich nicht laufen können!

Ich schnappte mir meinen Tee von der Theke und nahm noch zwei Tortenstücke mit, ehe ich mich vorbei an anderen Gästen und Tischen schlängelte und zielstrebig ihren Tisch ansteuerte.

»Ist hier noch frei?«, fragte ich mit einem freundlichen Lächeln und deutete auf den weißen Stuhl ihr gegenüber.
Sie schaute von ihrem Buch, in welches sie gerade las, auf, wobei ich feststellen musste, dass die Sitzgarnitur, auf welcher sie gerade saß, den selben warmen Braunton hatte, wie ihre Augen.
Ich schmunzelte innerlich. Sie war auch diesmal so schön.

»Sicher«, antwortete sie freundlich und lächelte mich an. »Zusammen zu speisen ist sowieso viel schöner.« Sie nahm ihr Buch vom Tisch, knickte in die Seite, wo sie eben aufhörte, ein kleines Eselsohr rein und verstaute es anschließend in einer am Boden stehenden Tasche.

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