Kapitel 10

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Liebes Tagebuch,
vor zwei Tagen habe ich mich raus in den Stall geschlichen. Nicht aber Archibalds wegen, nein. Ich habe mir ein Pferd geschnappt und bin auf dem schnellsten Wege vom Anwesen verschwunden, um in die Stadt zu reiten.

Die Kapuze meines Umhangs tief in mein Gesicht gezogen, ritt ich zu der Adresse, die mir James hinterlassen hatte.
Immer mal wieder schaute ich mich um, um mich zu vergewissern, dass mir auch ja niemand gefolgt war.

Als ich dann am bescheidenen Häuschen von Claras Tante ankam, schwang ich mich vom Pferd und klopfte an der Holztür.
»Einen wunderschönen guten Tag, die Dame«, begrüßte mich eine betagte Frau mit strengen Gesichtszügen.
»Guten Tag. Ich bin hier wegen...« Ich stockte und schaute mich ein letztes Mal um. »Wegen James und Clara«, sagte ich also mit gedämpfter Stimme, obwohl die Luft rein war.

Das Gesicht der Dame verdunkelte sich und sie machte die Tür wieder einen kleinen Spalt weiter zu, damit ich nicht mehr in den Innenraum des Hauses sehen konnte.

»Ich kenne keine Clara und auch keinen James«, sagte sie schnippisch.
»Bei allem nötigem Respekt. Ich weiß, dass Sie mich anlügen«, beharrte ich darauf meinen Bruder zu Gesicht zubekommen.
»Es tut mir leid, aber Sie müssen jetzt gehen.« Sie wollte die Tür ins Schloss drücken, ich kam ihr aber zuvor und stellte meinen Fuß in die Tür, damit diese nicht zu gehen konnte.

»Ich will zu meinem Bruder! Er hat mir Ihre Adresse gegeben und gemeint, dass ich ihn hier antreffen soll!«
»Ich kenne Ihren Bruder aber nicht!«, log sie weiterhin und drückte weiter gegen die Tür.

Plötzlich ertönte hinter ihr die zarte Stimme einer jungen Frau.
»Ist schon gut, Mary, das ist James' Schwester Lady Celia.« Die zarte Stimme schob sich an der strengen Dame vorbei. Clara stand nun vor mir, die ich auf den ersten Blick gar nicht erkannt hatte ohne ihre Dienstmädchenkleidung.

»James versucht gerade etwas Geld zuverdienen. Aber kommen Sie doch rein, Lady Celia.«
Beschämt blickte ich drein.
»Ich bitte dich, Clara, sag nicht Lady Celia zu mir...« Entschuldigend senkte ich den Kopf und trat in die bescheidene Wohnstube ein.

Als ich sah, wie bescheiden eine Person lebt, die bei uns gearbeitet hat, graute es mir.
Ich dachte immer, dass sich unsere Angestellten mehr als einen kleinen dunklen Raum, wo sie kochten, aßen und gleichzeitig schliefen, mehr zum Leben leisten konnten.
Diesem Haus fehlte es an allem.
Die Küche bestand nur aus einem alten Ofen, welcher den ganzen Raum fürchterlich heiß werden ließ. Gegessen wurde hier womöglich an dem kleinen Esstisch, an dem es nur zwei Stühle gab und geschlafen wurde am anderen Ende des Raumes in einem Doppelbett, welches nicht annähernd so groß war, wie das meine. Als ich dann den Vorhang sah, der ein kleines Eckchen im Raum abteilte, um dort sein Geschäft in einen Topf zu verrichten, muss ich wohl verräterisch schockiert ausgesehen haben, denn Clara sagte: »Es ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Verlegen entschuldigte ich mich und hörte auf meinem Blick wandern zu lassen - ich hätte meine Gedanken sonst wieder verraten.

Ich ließ mich auf einen der Holzstühle am Tisch nieder, während Clara sich mir gegenüber setzte.
»Etwas Tee?«, fragte sie freundlich.
Ich winkte allerdings ab. »Mach dir keine Umstände, danke.« Dass ich nur keinen Tee wollte, weil ich nicht die knappen Ressourcen dieses Hauses ausnutzen wollte, wollte ich nicht so direkt sagen. Ihr war es sicher schon unangenehm genug, dass ich überhaupt hier war.

Eine unangenehme Stille entstand, die ab und an durch das mürrische Schnauben von Claras Tante durchbrochen wurde.

Die peinliche Stille schien mich zu erdrücken, weshalb ich gerade aufstehen und vorschlagen wollte, später wieder zukommen, als die Tür mit einem Schlag auf ging und mein groß gewachsener Bruder in der Tür stand.

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