Kapitel 16

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New York, 05. April 1968

»Maria!«, rief Grace und stürmte die Stufen zu unserem Haus hoch.
»Maria!«, rief sie erneut außer Atem, während sie unüberhörbar laut gegen die Haustür polterte.

»Was ist passiert?«, fragte Maria besorgt und musterte ihre rastazöpfige Freundin, die gerade zu unserer Tür reingestapft kam.
»Er ist tot!« Verzweifelt stemmte die schwer atmende Grace die Hände in die Hüfte und rang nach Luft. »Er ist tot - erschossen, Maria! Einfach erschossen auf seinem Balkon!«
Fragend musterte nicht nur Maria Grace, denn auch mich wunderte die so ruhelose Art der sonst so entspannten Grace.

»Unser Held, Maria! Martin Luther King! Maria, er ist tot!«
Ungläubig schüttelte Maria neben mir den Kopf.
»Nein, Grace, du musst dich irren! Das ist nicht möglich!«, leugnet sie ungläubig die Worte ihrer Freundin, griff aber im selben Moment nach meiner Hand, was sie immer tat, wenn sie Halt benötigte.

»Doch, Maria, wenn ich es dir doch sage!« Verzweifelt hält Grace uns die Zeitung des Morgens vor die Nase, wo es schwarz auf weiß gedruckt direkt auf der Titelseite stand.
»Er ist tot?«, realisierte Maria.
Und genau in diesem Moment starb all die Hoffnung, die diese beiden afroamerikanischen Mädchen für ein gleichberechtigtes Amerika hatten.

»Und was tun wir jetzt?« Wie in Trance starrte Maria vor sich hin, während sie in ihrer Teetasse rührte, die ich den beiden Mädchen zur Beruhigung reichte.

»Aaron mobilisiert gerade die anderen. Wir gehen auf die Straße! Wir organisieren einen Friedensmarsch - das können die nicht mit uns machen, Maria!«
»Nein, Grace, nicht mit uns!«
»Und damit wollt ihr was erreichen? Maria, hast du vergessen wie die letzten friedlichen Proteste endeten?!«, mischte ich mich ein, denn ich wusste ganz genau, in welch eine Gefahr sich meine geliebte Maria begeben könnte.

»Das ist was anderes, Jackson!« Wütend stand sie vom gemusterten Sessel auf, wobei sie beinahe ihren Tee auf die Zeitung mit der grausamen Nachricht kippte.
»Das hast du das letzte Mal schon gesagt! Und trotzdem wurde euer friedlicher Marsch durch Harlem zu einer gewalttätigen Ausschreitung zwischen euch und der Polizei! Maria, du wurdest verdammt nochmal verhaftet!«
»Und wenn schon! Ich kämpfe für das Richtige!«
»Aber um welchen Preis?!«
»Und wenn ich mit meinem Leben zahle! Jack, dich und deinen weißen Arsch betrifft es nicht, aber mich, Jack, mich betrifft es!« Sofort senkte Maria ihre wütend erhobene Stimme, denn sie wusste, dass es nicht fair von ihr war, ihren Frust an meiner Hautfarbe auszulassen, denn genauso wie sie nichts für ihre konnte, konnte ich auch nichts für meine!

»Ich muss das tun«, erklärte sie nun also ruhiger und machte einen Schritt in meinen Arm. »Ich will nicht für den Rest meines Lebens anders angeschaut werden, nur weil ich schwarz bin. Ich will nicht, dass die Frauen aus den Südstaaten ihren Kindern erzählen, dass ich Krankheiten habe oder dass wenn sie mich anfassen, sie auch schwarz und dreckig werden!«
»Ist gut«, gestehe ich also, denn sie hatte recht.
Für mich ist es nur eine Hautfarbe gewesen, aber für die Gesellschaft war es ein Problem.
Und auch wenn Maria für dieses Problem nichts konnte - sie konnte nichts dafür, dass ihr weißer Vater eine Schwarze heiratete und erst recht konnte sie nichts für den Hass der Menschheit -, musste sie es lösen.

»Pass bitte einfach auf dich auf, Mari«, flehte ich sie an, bevor sie die Umarmung löste.
»So wie immer! So schnell kriegt mich keiner klein!«
Und so schenkte sie Grace, die die ganze Zeit ruhig auf der Couch unser gesamtes Gespräch verfolgte, einen vielsagenden Blick.
Die beiden Frauen waren entschlossen! Den Tod des Mannes, der ihnen Hoffnung auf ein normales Leben verschaffte, konnten sie nicht einfach so hinnehmen!

Angespannt tigerte ich durch unser Wohnzimmer, während die Truppe sich beraten hat.
Unser Haus war nicht zum ersten Mal zum Treffpunkt der Friedenskämpfer, wie sie sich selber nannten, geworden. Schon unzählige Male vorher saßen die vielen Männer und Frauen in unserem Wohnzimmer auf dem Boden, da kein Platz für so viele Gäste war, und besprachen ihre Pläne. Und doch war die Stimmung an jenem Tag anders. Wenn sie doch sonst so hoffnungsvoll Pläne schmiedeten, saßen sie heute mit Tränen in den Augen und tief gesenktem Kopf da. Keine Hoffnung. Keine Euphorie. Keine Siegeslaune.

Auch wenn diese Leute in meinem Wohnzimmer alle verschieden waren, so hatten sie doch eines gemeinsam.
Selbst meine Maria, die aus einem reichem Hause mit einem weißen Politiker Vater stammte, wurde für ihre Hautfarbe diskriminiert. Dass das inakzeptabel war, wusste ich genauso gut wie sie und trotzdem konnte ich nichts bewirken.
Maria wollte mich nie auf ihren Märschen dabei haben, denn viele der Mitwirkenden der Friedenskämpfer waren nicht gut auf uns Weiße zu sprechen. Auch nicht auf die, die etwas Gutes bewirken wollten.
So blieb ich also jedes Mal zuhause, nachdem ich die Schlachtpläne und Strategien bis ins kleinste Detail gehört habe und bangen musste, dass doch etwas schief ging.

So also auch an jenem Tag. Gegen späten Nachmittag erhob sich die entschlossene Truppe und verließ nach und nach unser Haus.
»Bitte sei vorsichtig!«, flehte ich erneut Maria an, denn ich hätte es nicht ertragen, wenn ihr etwas passiert wäre.
Dass auch sie meine Angst teilte, wusste ich, als sie mir auf eine Art und Weise antwortete, wie sie es niemals zuvor tat.
»Gott wird mir beistehen«, sagte sie auf eine Art und Weise, die mir Angst machte, drückte mir einen ungewöhnlich langen Kuss auf und verließ mit einem beklemmten Lächeln das Haus.

***

Eineinhalb Stunden später klopfte es so stark gegen meine Tür, dass ich kurz dachte, dass sich der Tag wiederholte und es wieder Grace mit ihrer schlechten Nachricht wäre, aber das war sie nicht.

Als ich öffnete stand mein alter Freund Nicolas vor der Tür. In dieser Zeit war er ein Polizist und war gekommen, um mir die geplanten Maßnahmen der New Yorker Polizei gegen die vielen Proteste des Todes von Martin Luther King zu Ehren zu erzählen.

»Jack, du musst nach Harlem fahren und Maria da weg holen! Ich meine es ernst, mein Freund. Die Aufständischen waren schon die letzten Male immer gewaltbereiter! Heute rechnet die Polizei mit noch mehr Hass und ist bereit alles zu tun, um die Stadt zu schützen.«
»Bist du dir sicher, Nicolas? Die Friedenskämpfer organisieren einen friedlichen Protest und planen keine Gewalt«, sagte ich und hoffte auf Entschärfung der angespannten Stimmung. Aber Nicolas schüttelte den Kopf.
»Ja, Jack, das bin ich! Selbst wenn die Friedenskämpfer nur gutes Bewirken wollen, sind sie nicht die einzigen, die heute durch Harlems Straßen ziehen! Viele Schwarze ziehen durch die Straßen und viele von ihnen sind sehr wütend. Der Tod ihres Idols ist für sie ein Grund Gewalt anwenden zu wollen! Und glaube mir, mein Freund, das werden sie auch tun.« Er musterte mich mit wirklich ernster Miene, woraufhin ich verstehend nickte.

Noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, durchbrach ein Funkspruch die nachdenkliche Stille.
»Was ist?!«, fragte ich hektisch, nachdem die Stimme der Leitstelle aufhörte für mich unverständliche Sache weiterzugeben.
»Schüsse in Harlem! Schwarze haben angefangen Gewalt gegen die Staatsgewalt auszuüben.«

So hieß es zumindest offiziell. Denn ob die Schwarzen diejenigen waren, die angefangen haben ihren friedlichen Protest zu unterbrechen und Gewalt zu wählen, war in diesem Moment mal dahingestellt.
Allerdings war mir klar, dass ich keine Zeit verlieren durfte und dorthin musste!

Mein alter Freund winkte mich auf den Beifahrersitz seines Polizeiautos und fuhr mit heulender Sirene in einem Affenzahn durch New York.

Noch bevor wir in der besagten Straße ankamen, hörten wir Schüsse, Schreie, Sirenen.
Mitten auf einer Kreuzung brachte Nicolas den Wagen zum stehen und ich sprang hinaus.
Eine schreiende Meute afroamerikanischer Demonstranten lief von hartdurchgreifenden Polizisten und Schüssen davon, um nicht verhaftet oder gar erschossen zu werden.

Ich versuchte das Chaos zu durchblicken. Nach bekannten Gesichtern zu suchen, aber da war niemand, den ich erkannte.
Drängelnd bahnte ich mir den Weg durch die mir entgegenkommenden Leute.
Maria, wo war Maria?!

Weitere Schüsse fielen. In dem ganzen Durcheinander konnte ich doch noch Hoffnung schöpfen. Maria! Zwischen all der Menge war Maria!
Aber genau in dem Moment, wo ich Maria tatsächlich gesichtet hatte, sah ich sie schon nicht mehr.
Ich zuckte zusammen.
»Maria!«, schrie ich, ohne das Gefühl zu haben, dass meine Worte meinen Mund verließen.

Ich drängelte mich durch eine Meute, deren Schreie ich nicht mehr wahrnahm. All diese Geräusche verstummten von jetzt auf gleich und ich wollte einfach nur noch meine Maria erreichen. Sie zu erreichen schien allerdings unmöglich und das beklemmende Gefühl, dass mich eine unsichtbare Kraft zurückhält und mich am Weiterkommen hinderte, raubte mir meine Kraft.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich die Fänge der großen Meute hinter mir gelassen und meine Maria endlich erreicht.
Hastig nahm ich sie in die Arme.
»Maria!« Ich rüttelte sanft ihren am bodenliegenden Körper und drückte auf die klaffende Wunde, aus welcher beängstigend viel Blut floss ...

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