Kapitel 4

33 8 19
                                    

Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Kein Weg führte um die Offenbarung meiner wichtigsten Besitztümer rum, weshalb ich mich zwei Tage später mit dem Karton, welcher sonst geschützt unter meinem Bett ruhte, unter dem Arm gewappnet, auf dem Weg zu Ally machte.

Aus ihren Erzählungen wusste ich ungefähr, wo sie wohnen musste, weshalb ich an diesem Abend geradewegs die Straße runter auf dem Weg war, herauszufinden, wo genau ich sie antreffen konnte.

Ich hätte in dieser Situation niemals ihr Zuhause aufgesucht, wenn es nicht so dringend notwendig war, denn ich wusste, dass sie sowieso schon dachte, dass ich nicht ganz dicht sei. Allerdings reagierte sie auf keinen Anruf und keine Nachricht. In ihrem Fotostudio hätte ich auch nicht aufkreuzen können, denn das, was ich ihr zu offenbaren hatte, war nicht für Publikum geeignet. Und wenn sie Kundschaft gehabt hätte und ausgerastet wäre, was womöglich ihren Ruf schädigte?! Nein, es war keine Möglichkeit!

Ich betrat das erste Apartmentkomplex der Straße und klingelte mich durch jegliche Wohnungen und befragte die offensichtlich überraschten Bewohner nach Ally. Zu meiner Ernüchterung kannte sie im ganzen Haus keine Menschenseele, worauf ich schloss, dass es das falsche Gebäude war.

Auch im zweiten und dritten Gebäude lief ich erfolglos die Stufen des Treppenhauses auf und ab. Mein Arm war schon ganz schwer vom tragen des Kartons und die Knöchel meiner Hand taten schon vom Klopfen an den unzähligen Türen weh. Aber ich konnte nicht aufgeben - noch nicht.

Im vierten Gebäude hatte ich auch schon die Hoffnung aufgegeben, als ich dann doch Glück zu haben schien und eine betagte Dame mich in ein Gespräch verwickelte.

»Kennen Sie eine Ally?«, fragte ich die Frau außer Atem, als sie, lediglich in einem lilafarbenen Nachthemd bekleidet, die Tür einen spaltweit öffnete und nur mit einem ihrer hinter Brillengläsern ruhender Augen zu mir schaute.

»Wer will das wissen?«, fragte sie misstrauisch.
»Na ich! Charlie Morrison.«
»Charlie Morrison also? Soso.«
Die ältere Dame öffnete die Tür nun einen Spalt mehr und beäugte mich nun mit beiden Augen argwöhnisch.
»Und was wollen Sie von der besagten Ally
Des Wortes verlegen, denn ich konnte ihr unmöglich die Geschichte erzählen, schaute ich sie nur verzweifelt an.

Meine Blicke reichten aus, damit sie verstand.
»Also Liebeskummer«, seufzte sie, das Gefühl nur allzu gut kennend.
Ich nickte unsicher, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich es einer so gebrechlichen Frau sonst hätte erklären sollen.
Daraufhin trat sie komplett aus der Tür und legte ihre zitternde Hand tröstend auf meinen Arm. »Wissen Sie, Liebeskummer ist eines der schlimmsten Dinge dieser grausamen Erde, also will ich mal nicht so sein.« Sie lächelte mich wissend an und versuchte sich zu erinnern.

Dass sie den Namen Ally schon mal gehört hatte, wusste ich in der Sekunde, als ich ihn erwähnt hatte. Mittlerweile war ich nämlich ziemlich gut im Lesen der menschlichen Körpersprache gewesen und ihre verriet sofort, dass sie etwas wusste! Aufgrund ihres hohen Alters, konnte sie allerdings nur mühsam aus ihrem Hinterstübchen kramen, wo sie den Namen schon mal gehört hatte.

»Jetzt weiß ich's wieder«, sagte sie so plötzlich, dass ich ein wenig zusammenzuckte.
»Sie meinen die Fotografin Ally? Angel, stimmst?«
Ich nickte heftig. »Ja, genau die meine ich! Wissen Sie, wo sie wohnt?«
»Nicht genau hinter welcher Tür auf welchem Gang, tut mir leid. Aber ich weiß, dass sie in dem großen roten Backsteingebäude ganz am Ende der Straße wohnt.«

Ich hätte vor Freude heulen können. Ich hätte mich noch durch gute zehn Apartmentkomplexe kämpfen können, wenn mir diese liebe Frau nicht geholfen hätte.
»Wie kann ich Ihnen nur danken,...?« Ich zögerte, denn ich kannte nicht einmal ihren Namen.
»Elisa«, sagte sie glücklich darüber geholfen zu haben. »Ich heiße Elisa und Sie können mir damit danken, wenn Sie Ihre Ally immer stets gut behandeln, Charlie.« Sie zwinkerte mir freundlich zu.
»Das werde ich tun, Elisa, das können Sie mir glauben!«
»Dann worauf warten Sie?! Los mit Ihnen! Gehen Sie zu ihr und sagen ihr, wie sehr Sie sie lieben!«
»Danke!«, sagte ich gerade so laut genug, sodass sie es mit Mühe noch verstand und schenkte ihr ein gebrechliches Lächeln. Wenn Elisa nur gewusst hätte, dass es nicht so leicht war, wie sie dachte...

Noch bevor Elisa die Tür wieder richtig zu gemacht hatte, war ich schon los gerannt. Ich rannte all die Treppen runter, wobei ich das ein oder andere Mal ins Stolpern kam und mitsamt meines Kartons beinahe auf dem Boden gelandet wäre. Ich rannte aus dem Gebäude raus und rannte die Straße, vorbei an all den Gebäuden, die ich nun trostlos auf meiner Suche überspringen konnte, meinem Ziel immer näher kommend hinunter.

»Da ist es«, murmelte ich mit Vorfreude, wobei ich mir nicht einmal sicher sein konnte, ob dies eine gute Idee war, als das beschriebene Gebäude in Sichtweite war.

Ich rannte hinein und klopfte mich, so wie in den Gebäuden zuvor, wieder von Tür zu Tür, bis einer der Nachbaren mir bereitwillig erklärte, was Allys Apartmentnummer war.
Ich rannte wieder Treppen nach oben - bis in den vorletzten Stock.
Dann lief ich den Flur bis fast zur letzten Tür ab, um dann herauszufinden, dass ich doch noch einen Stock höher musste.

Also lief ich wieder zurück zu den Treppen und rannte auch noch die letzten Stufen nach oben, wobei ich immer zwei auf einmal nahm,
Dass ich schon längst hätte aus der Puste sein sollen, wusste mein Körper in dem Moment nicht, denn das Adrenalin, was vor Aufregung durch meine Adern gepumpt wurde, hielt mich wacher als ich eigentlich war.

In der Mitte des Ganges sah ich die besagte Apartmentnummer. Bevor ich klopfte, sammelte ich mich nochmal und versuchte meinen Atem wiederzufinden.

Als ich dann schließlich meine zitternde Hand zur Faust ballte, um zum x-ten Mal an diesem Abend an einer Tür zu klopfen, atmete ich nicht mehr ganz so schnell. Mein Herz jedoch pochte so wild, sodass ich dachte, man könnte es noch fünf Meter neben mir pochen hören.

Ich klopfte und... nichts. Erstmal passierte nichts. Ich klopfte ein zweites, deutlich lauteres Mal und horchte, ob sich was hinter der Tür regte.
Aber wieder nichts.
Ich klopfte ein drittes, noch viel lauteres Mal und zu meiner Überraschung hörte ich es sich auf der anderen Seite regen.

Oh mein Gott, dachte ich und fühlte mich auf einmal sehr schwach. Wahrscheinlich war ich kreidebleich geworden - so fühlte ich mich auf jeden Fall.

Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt und ehe ich auch nur etwas sagen konnte, hörte ich schon die Begeisterung meines Gegenübers.

»Oh nein! Lass mich zufrieden!«, keifte sie aufgebracht und versuchte die Tür schnell wieder ins Schloss fallen zu lassen. Aber ich war schneller. Schon ahnend, was sie tun würde, schob ich mit Reflexen, die einer Katze gleich waren, meinen Fuß in die noch offene Tür.

»Ich bitte dich, Ally, hör mir zu«, flehte ich genauso wie am verheerenden Abend schon.
Aber auch diesmal stieß ich nur auf Ablehnung.
»Dir zuhören?! Du bist ein kranker Spinner und ehrlich gesagt, bestätigst du mich nur noch mehr damit, dass du herausgefunden hast, wo ich wohne, dass ich Angst vor dir haben sollte!«
»Nein, Ally! Ich würde dir niemals was tun wollen. Ich habe wirklich eine gute Erklärung für alles, du musst mich nur rein lassen - ich bitte dich...«
»Dich reinlassen?!« Verpönt lachte sie. »Damit du mich überwältigen, knebeln, vergewaltigen oder gar ermorden kannst?! Du spinnst doch! Geh einfach und lass mich zufrieden!«

Aufgrund ihrer ablehnenden Haltung, wusste ich ganz genau, dass sie ihre Meinung nicht ändern würde, wenn ich weiterhin so bedrohlich auf sie einredete.
Ich tat also das einzig kluge und zog meinen Fuß aus der Tür, woraufhin die Tür auch sofort mit einem lauten hallenden Knall ins Schloss fiel.

»Ich werde gehen, aber schau dir wenigstens das hier an...« Und damit tat ich das dümmste, was ich mir nur vorstellen konnte, und stellte den Karton mit meinen wichtigsten Besitztümer einfach vor ihrer Tür ab und entfernte mich schweren Herzens.

Ich wusste ganz genau, dass sie noch eine Weile wie versteinert hinter ihrer Tür stehen würde und horchte, ob ich mich auch ja nicht mehr auf dem Flur aufhielt, ehe sie auch nur darüber nachdachte, das, was ich vor ihrer Tür abstellte, anzuschauen.

Es tat mir leid sie geängstigt zu haben und ich fragte mich nun selber, wie dumm ich doch dafür gewesen war. Die Chancen, dass sie mich nun bei der Polizei anzeigte oder gar noch schlimmer, meinen Karton wegwarf oder anderweitig vernichtete, war nun um ein tausendfach gestiegen und das bereitete mir sorgen.
Ich konnte sie nicht verlieren. Aber erst recht konnte ich nicht die Erinnerungen verlieren, die dieser Karton am Leben hält...

A never ending love story Where stories live. Discover now