1 | In the Shadows

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Aria Blackwell bewegte sich beinahe lautlos durch die finsteren Gassen des Untergrunds; ihre Schritte hallten nur gedämpft von den rissigen Wänden des alten Bahntunnels wider. Das Licht war spärlich und stammte von den vereinzelten Glühbirnen, die an den Decken der Tunnel hingen und schwache Schatten auf die Gänge des verzweigten Labyrinths warfen, das hier in völliger Willkür in den letzten Jahren entstanden war.

Der Geruch von Verfall und Verzweiflung hing schwer in der Luft, während Aria sich durch die verwinkelten Gassen kämpfte. Dabei kam sie an den, in die alten Tunnel provisorisch gehauen, Höhlen und an den, aus dem Müll der reichen erbauten, Unterschlupfen vorbei. Überall um sie herum hörte sie das Murmeln der Menschen, die in den Schatten lauerten, und das dumpfe Dröhnen von Maschinen, die in den Tiefen des Untergrunds an weiteren Höhlen für die ärmsten der Armen arbeiteten. Die Luft roch abgestanden und staubig und auch den beißenden Geruch von Fäkalien und Schweiß versuchte Aria weitestgehend zu ignorieren.

Plötzlich hörte sie ein leises Rascheln hinter sich und drehte sich instinktiv um; ihre Hand fest um den Griff ihres Messers gelegt. Doch hinter ihr war niemand. Nur eine Ratte, die aus einem der dunklen Eingänge gehuscht war und nun in den Schatten verschwand. Aria atmete tief durch und setzte ihren Weg fort, immer wachsam und bereit für alles, was ihr im Untergrund von Nightvale begegnen könnte.

Immer wieder musste sie auf ihrem Weg zu ihrem Ziel über Barrikaden aus alten Möbeln klettern oder einen großen Schritt über das immer größer werdende ehemalige Rinnsal machen, in dem sich nicht nur Wasser den Weg zum tiefer gelegenen, unterirdischen Fluss bahnte. Doch auch wenn der Weg beschwerlich und schmutzig war, Aria ging ihn fast täglich, um ihre „Schützlinge" zu besuchen und ihnen zumindest das Nötigste an Versorgung zukommen zu lassen. So wollte sie ein Stück von dem zurückgeben, was man ihr all die Jahre geschenkt hatte.

Die Welt hatte es gut mit ihr gemeint. Sie war selbst als kleines Kind vor vielen Jahren ganz allein nur mit ihrem Cousin Elijah Stone in die Stadt gekommen. Ihre Eltern hatten alles aufgegeben, um wenigstens die Kinder in Sicherheit zu wissen. Aria war von einer netten Familie aufgenommen worden, die sie am Anfang noch mit durchgefüttert hatte. Das kleine Mädchen hatte sogar so etwas wie eine Schule besuchen können und später durch Zufall einen Job als Assistentin bei einem angesehenen Arzt der Reichen Oberschicht ergattert.

Als die Zeiten härter wurden, hatte sie die Familie verlassen und war mit Elijah, der bei der Polizei aufgrund seiner hohen Statur und Kraft schnell aufgestiegen war, in eine winzige Wohnung in einem der günstigeren Wohnblocks am unteren Ende der Stadt gezogen. Sie wohnten bescheiden, um immer wieder denen zu helfen, die im Untergrund lebten und nicht so viel Glück gehabt hatten.

Auch heute hatte Aria wieder allerlei Medikamente in ihrem Rucksack dabei, um wenigstens die Kinder gegen Tetanus zu impfen, das man sich bei all dem Müll, der hier unten offen rumlag, nur zu schnell einfangen konnte. Zudem hatte ihr Dr. Julien Noir, ihr Chef und heimlicher Verbündeter im Kampf gegen die Krankheiten - die sich in der Schattenwelt von Nightvale sonst ungehindert ausbreiten würden - ein paar Packungen mit Vitamintabletten, vor allem dem so benötigten Vitamin D, mitgegeben. Hier unten, einem Ort, an dem niemals Sonnenlicht gelangte, war dieses Präparat so begehrt wie knapp.

Mit dem vollen Rucksack auf den Schultern, war jeder Schritt, den Aria durch die düsteren Gassen machte, von einer unsichtbaren Spannung begleitet. Ihre Augen huschten nervös von einer Ecke zur anderen, während sie sich vorstellte, dass sich irgendwo in den Schatten jemand verbarg, der es auf ihre wertvollen Medikamente abgesehen hatte. Die Blicke der Menschen um sie herum schienen auf ihr zu lasten, und sie spürte die unheimliche Präsenz ihrer stummen Beobachter.

Doch seltsamerweise griff niemand nach ihr. Keiner der Schatten, die sich in den dunklen Ecken der Straßen versteckten, wagte es, ihr etwas anzutun. Stattdessen spürte sie einen Hauch von Anerkennung in den verstohlenen Blicken, die ihr begegneten. Insgeheim wussten die Menschen hier unten, dass sie ihnen helfen wollte, dass sie einer von ihnen und bereit war, für ihr Wohl zu kämpfen.

Neonlight Shadows (ONC 2024)Donde viven las historias. Descúbrelo ahora