9 | Der Bug im System

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Seraphina Nightshades schlanke Finger tanzten über die ergonomisch geformte Tastatur ihrer hochmodernen Überwachungsstation. Das leise Summen der Elektronik mischte sich mit dem rhythmischen Klackern der Tasten, während Seraphina sich in ihre Arbeit vertiefte. Die Reihe der Monitore, die sich vor ihr erstreckten, warfen ein scharfes Licht auf ihr Gesicht, das die freudige Spannung in ihren Augen widerspiegelte. Die plötzliche Anweisung, mehrere tausend Nanoplatinen für die Überwachung der Shadows zu programmieren, kam unerwartet und setzte die Meisterin der Programmierung unter den richtigen Grad Druck, um ihre Gehirnzellen auf die Betriebstemperatur zu bringen, die sie benötigte, um effizient arbeiten zu können.

Die blonde Schönheit saß mit einer Packung Kaubonbons und einer Flasche Energiebrause an ihrem Terminal und durchforschte die gerade geschriebenen hellgrün leuchtenden Zeilen auf dem ansonsten schwarzen Bildschirm, fast wie ein Computer selbst.

Die Aufgabe, die ihr für diese Nacht gestellt wurde, passte perfekt zu ihren Fähigkeiten und Vorlieben. Als talentierte Technikerin und Hackerin, die Nexor bei der Überwachung und Kontrolle der Stadt unterstützte, genoss sie es, ständig neue Wege zu finden, um die Bewohner mit den innovativen Ideen ihres Herrschers vertraut zu machen. Überwachung und Kontrolle waren für sie nicht nur Schlagworte, sondern ein Leitprinzip, dem sie sich voll und ganz verschrieben hatte.

Nexor, der Mann, der die Kontrolle über die Stadt innehatte, war dabei ein großes Vorbild für Seraphina, das sie bewunderte und respektierte. Er hatte diese Stadt entworfen und in Auftrag gegeben, also war es für sie nur folgerichtig, dass er im Grunde genommen auch für das Schicksal ihrer Bewohner mitverantwortlich war. Seraphina war überzeugt, dass zu viele unterschiedliche Ansichten und Vorgehensweisen die Effizienz beeinträchtigen würden und dass es in dieser Welt besser war, wenn nur eine Person, oder eine kleine Gruppe über das Wohl der Menschen bestimmen sollten.

Diese Gruppe um Nexor hatte die Verantwortung, sicherzustellen, dass alle Einwohner von Nightvale ein gutes und gesundes Leben führen konnten, unabhängig von ihrem sozialen Status. Da die Bedürftigen oft nicht in der Lage waren, sich selbst zu versorgen, übernahm Nexor mit seinem Team diese Aufgabe. Leider wurde ihrem Boss für diese schwere Aufgabe nicht annähernd die Anerkennung zuteil, die er verdient hätte. Daher war man bei Nex-On Industries schnell dazu übergegangen, einige Operationen vor der breiten Masse geheim zu halten. Wie zum Beispiel das Problem der Babyboomer. Diese glorreiche Idee war Nexor eines Tages gekommen, als er eine neue Gespielin für sich gesucht hatte. Viele Mädchen waren gekommen, um den reichsten und mächtigsten Mann der Stadt kennenzulernen und auch einige seiner treuen Geschäftspartner hatten ihre Töchter für ein Stück vom Ruhm feilgeboten.

Nexor hatte sich umgesehen und all die hübschen Dinger begutachtet, die sich ihm so bereitwillig anboten. Dann kam ihm eine brillante Idee. Wer immer sich mit ihm zeigen wollte, musste sich sterilisieren lassen. Denn das Letzte, was Nexor gebrauchen konnte, waren unerwünschte Nachkommen mit einer Begleiterin, die er vielleicht nach ein paar Monaten austauschen würde. Pillen hatten bereits unerwünschte Nebenwirkungen wie Hautunreinheiten und Lustlosigkeit gezeigt, was Nexor nicht tolerieren konnte. Sich selbst jedoch einer Operation zu unterziehen, hielt er für unnötig. Das Risiko, seine Potenz zu beeinträchtigen, schien ihm zu groß. Außerdem hoffte er, mit der neuen Anforderung den Kreis der potenziellen Kandidatinnen etwas einzuschränken.

Nachdem er einige geeignete Partnerinnen ausgewählt hatte, berichteten ihm seine Mediziner von einem neuen Medikament, das die Fruchtbarkeit von Frauen zu über neunzig Prozent unterdrückte. Ein Restrisiko blieb zwar bestehen, aber das Medikament war einfach zu verabreichen, schnell herzustellen und ersparte den Frauen die kostenintensive Operation. Die Idee, dieses Medikament auch auf die Bewohner der Unterwelt anzuwenden, kam dem klugen Mann, als er wieder einmal sein Versprechen einlösen musste, den Shadows Vitamine zu besorgen. So wurde die Idee der Vitaminspritze geboren.

Einige Chargen dieses Medikaments befanden sich nun in einem Kühlschrank des Tech-Labors und warteten auf ihre geheime Zutat: Ein Mikroimplantat, das nicht nur die Hormone und damit das Verhalten der Shadows steuern konnte, sondern auch ihre Bewegungs- und Aktivitätsdaten überwachen konnte. Auf diese Weise konnte Nexor jederzeit die Gesundheit und den körperlichen Zustand der Shadows überwachen und im Falle einer Gefahr manipulieren.

In den dunklen Gassen der Stadt munkelte man bereits vermehrt über eine geheime Untergrundbewegung, die sich im Schatten formierte und finstere Pläne schmiedete, um den mächtigen Mann und mit ihm die gesamte Stadt ins Verderben zu stürzen. Das Gerücht von aufbegehrenden Schatten, die sich gegen die herrschende Ordnung verschworen hatten, verbreitete Angst und Schrecken unter den Bewohnern. Die drohende Gefahr hing wie ein düsterer Schleier über der Stadt, und es war von größter Dringlichkeit, dass diese Bedrohung mit allen Mitteln bekämpft und unter Kontrolle gebracht wurde.

Seraphina griff nach ihrer fast leeren Limonade und betrachtete ihre Arbeit. Einige Codezeilen waren zwar etwas stümperhaft geschrieben, doch der Großteil des Codes zeigte eine gewisse Eleganz und war eindeutig von ihrer Handschrift geprägt.

Stolz darauf, die Aufgabe in Rekordzeit erledigt zu haben, reckte sich die Blonde mit den blauen Augen, deren düstere Natur wohl niemand auf der Straße bemerkte. Sie verkörperte den Begriff des eiskalten Engels perfekt: wunderschön, doch so kalt wie ein Gletscher vor der Schmelze.

Ihre Kindheit war nicht von den luxuriösen Türmen von Nightvale geprägt gewesen, wie bei vielen anderen, sondern von den dunklen Gassen der Unterwelt. Armut, Gewalt und der ständige Kampf ums Überleben hatten ihre Jugend gezeichnet. Um dem Hungertod zu entkommen, hatte sie sich eines Tages in das Versorgungsnetz der Stadt gehackt und eine Sonderlieferung Essen in den Untergrund bestellt. Doch statt Nahrung waren bewaffnete Schergen Nexors eingetroffen, die ihren Einbruch in das Sicherheitssystem entdeckt hatten.

Seraphina war voller Angst gewesen, als man sie zu Nexor gebracht und ihm achtlos vor die Füße geworfen hatte. Sie hatte geglaubt, dass ihre Zeit nun gekommen sei. Doch anstatt sie einzusperren oder zu bestrafen, bat Nexor sie, ihm zu zeigen, wie sie seine Firewall umgangen hatte. Stolz hatte sie ihm ihre Fähigkeiten demonstriert und sich damit einen Platz in seinem Sicherheitsteam erkämpft. Damals war sie gerade fünfzehn Jahre alt.

Seitdem war sie nie wieder in den Untergrund zurückgekehrt. Unter Nexors großzügiger Führung genoss sie alle Annehmlichkeiten, die sie brauchte, durfte stets das neueste technische Spielzeug testen und hatte Freude daran, neue Codes zu schreiben oder Konkurrenten auszuspionieren – und das alles sogar noch bezahlt. Bisweilen fühlte sie sich wie eine Made im Speck.

Seraphina nahm den letzten Schluck ihrer Energie-Brause und begann dann, die weniger gelungenen Codezeilen zu löschen. Für sie war es unvorstellbar, eine Arbeit von minderer Qualität abzuliefern. Diese Programmierung sollte ein weiteres Meisterwerk in ihrer Karriere werden, selbst wenn niemand jemals davon erfahren würde. So überzeugt von ihrer Fähigkeit, machte sie jedoch beim erneuten Codieren der gelöschten Zeilen einen winzigen Fehler – ein einzelner Buchstabe in einem mehrere hundert Zeilen umfassenden Code, der ihr in den frühen Morgenstunden, als sie ihr Werk einem zweiten Entwickler zur Abnahme vorlegte, nicht auffiel.

Auch der zweite Programmierer übersah den Fehler, den er für einen ungewöhnlichen, aber dennoch nachvollziehbaren Kniff in den komplexen Zeilen hielt. Ohne zu zögern, gab er das Projekt frei und ließ den Code auf die Chips schreiben. Denn die neuen Spritzen sollten so bald wie möglich unter die Leute kommen. Und einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Stadt markieren.

Neonlight Shadows (ONC 2024)Where stories live. Discover now