8 | Der geheime Pakt

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Mit einem bewundernden Staunen betrat Aria die Wohnung des Doktors. Ihre Augen weiteten sich, als sie den geräumigen Wohnbereich betrat, der sich in einem Kontrast zu ihrer eigenen kleinen und bescheidenen Bleibe befand. Die bodentiefen Glasfronten, die sich über die gesamte Wand erstreckten, schienen die Grenzen zwischen drinnen und draußen verschwimmen zu lassen. Die leuchtende Silhouette der Stadt, die sich vor ihr ausbreitete, war eine Welt entfernt von ihrem üblichen Anblick. Wenn sie aus ihrem kleinen Fenster im Schlafzimmer sah, fiel ihr Blick auf eine schmutzige Straße und das eng an ihrem stehende Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Während der Doktor in die Küche Wasser für einen Tee aufsetzte, ließ Aria ihren Blick durch den Raum schweifen und bemerkte die geschmackvolle Einrichtung, die eine perfekte Balance zwischen Modernität und Gemütlichkeit zu finden schien. Die großzügigen Sitzgelegenheiten luden zum Verweilen ein, und die kunstvollen Dekorationen verliehen dem Raum eine persönliche Note, die Aria in ihrer eigenen Wohnung so vermisste.

Das Einzige, was ihr von der alten Welt geblieben war, war ein Familienfoto, das sie gut sichtbar über ihr Bett gehängt hatte. Jeden Abend, bevor sie einschlief, dachte sie an ihre Eltern, die sie hatte zurücklassen müssen, und dankte ihnen dafür, dass sie ihr das Leben geschenkt hatten - zweimal. Neben dem Foto saß auch ihr flauschiger Teddybär, der ihr durch so manch schlaflose Nacht geholfen hatte und der noch immer jeden Abend auf ihrem Kopfkissen auf sie wartete. Heute würde er wohl allein einschlafen müssen.

Als sie zu Julien in die offene Küche trat, konnte sie nicht umhin, einen Vergleich zu ihrer eigenen kleinen Kochstelle zu ziehen. Hier gab es keine engen Platzverhältnisse oder begrenzte Möglichkeiten der Essenszubereitung. Stattdessen strahlte die Küche mit ihren hochwertigen Geräten und edlen Oberflächen einen Hauch von Luxus aus, der Aria schwindeln ließ. Kurz überlegte sie, wann sie das letzte Mal frisches Gemüse zubereitet hatte. In den letzten Jahren waren auf ihrem Teller vermehrt nährstoffoptimierte Fertiggerichte gelandet. Einfach, weil der Platz, der für Gewächshäuser genutzt wurde, weiterem Wohnraum hatte weichen müssen und die Preise für frische Nahrungsmittel in die Höhe getrieben hatte. Wenn sich Aria jedoch jetzt umschaute, fragte sie sich unwillkürlich, ob nicht jeder Bewohner mit so viel Platz in der eigenen Wohnung ein Stück davon für ein eigenes Gewächshaus opfern sollte. Oder besser: Für einen Menschen, der im Untergrund lebte.

„Schau dich ruhig um, während ich uns etwas zum Essen mache. Dieser Joghurt hat mich nicht wirklich befriedigt", schlug Julien vor, und Aria meinte ein peinlich berührtes Lächeln auf seinen Wangen zu sehen, als er das Wort „befriedigt" aussprach. Es war ihr bereits aufgefallen, dass Julien sich in den letzten Wochen anders verhielt. Zuerst hatte sie angenommen, dass es daran lag, dass er herausgefunden hatte, dass sie den Menschen im Untergrund half, und dass er ihr indirekt den Rücken freihalten wollte. Doch scheinbar steckte noch mehr dahinter als bloße Freundlichkeit. Immer öfter fühlte sie seinen Blick auf sich ruhen, begleitet von einem leichten Lächeln, das mehr sagte als tausend Worte. Es war offensichtlich: Er mochte sie. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass es ihr genauso ging. Die Endorphine in ihrem Körper begannen wild zu tanzen, jedes Mal, wenn sie in seiner Nähe war.

Doch während Aria weiter die Wohnung des Doktors erkundete, wurde ihr bewusst, wie sehr sich ihr Leben von dem hier oben unterschied. Ein leichtes Seufzen entrang sich ihrer Brust, als sie sich auf den Weg zum Schlafzimmer machte. Das Bett dort strahlte eine Aura von Behaglichkeit und Komfort aus, die im Kontrast zu ihrem bescheidenen Schlafplatz stand. Die Gedanken an die dünnen Matratzen und die lauten Geräusche, die von den Nachbarn durch die Wände drangen, ließen sie die Augen schließen und für einen Moment die Ruhe dieses Ortes genießen.

„Der Tee ist fertig", sagte plötzlich eine vertraute, sanfte Stimme hinter ihr. Ein angenehmer Schauer strich über ihren Nacken. Wie lange hatte sie hier, tief in Gedanken versunken, gestanden? „Wenn du zu müde bist...", setzte Julien an, doch Aria schüttelte den Kopf.

Neonlight Shadows (ONC 2024)Where stories live. Discover now