2 | Nex-On Industries

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Cassius Dusk war kein Mann fürs Grobe. Die Stärke des skrupellosen Geschäftsmannes, der mehr als Nexon Nocturnes rechte Hand und treuer Berater war, lag in der Kunst mit Zahlen zu jonglieren, Märkte zu manipulieren und die Spielregeln des Kapitals zu seinen Gunsten zu beugen.

Wann immer Nexon eine wirtschaftliche Schlacht in Nightvale zu schlagen hatte, engagierte er den Mann mit den eisigen Augen und dem Herzen aus Stahl, der ohne Hemmungen alles tun würde, um Nexons Interessen durchzusetzen und ihr gemeinsames Kapital zu schützen. Denn der vorausschauende Nexon bezahlte seinem Marionettenspieler in Anteilen seines Vermögens. Einem geringen Bruchteil, sicherlich, aber dennoch genug, um Cassius' Loyalität ihm gegenüber nicht in Frage zu stellen.

Als Cassius an diesem Vormittag den Fahrstuhl des Nex-On-Towers, dem höchsten und eindrucksvollsten Gebäudes der Stadt, verließ, nahmen ihn sofort zwei Sicherheitsleute in Empfang. Routiniert hob der Finanzexperte seine Hände über den Kopf und ließ sich kurz mit dem Metalldetektor absuchen. Er hatte sich längst an diese, wie er fand, überflüssige Prozedur gewöhnt. Man hatte ihn erwartet; er war Nexons rechte Hand und trotzdem ließ es sich der reichste und mächtigste Mann in Nightvale nicht nehmen, ihn jedes Mal aufs Neue durchzuchecken.

Als ob irgendjemand annehmen würde, Cassius könnte an den hochmodernen und vielfältigen Sicherheitsmaßnahmen vorbeikommen, die in diesem Gebäude herrschten: Netzhautscanner, Wärmebildkameras, Waagen in den Aufzügen, Security... Nexon überließ bei seiner eigenen Sicherheit nichts dem Zufall. Zu paranoid war der ältere Mann, dem das wichtigste und einflussreichste Unternehmen in Nightvale gehörte.

Neben seiner Techniksparte Tech-On, die zu annähernd neunzig Prozent der technischen Einrichtungen und Spielereien der Reichen herstellte, war Med-On die zweitgrößte Sparte von Nex-On-Industries. Die Labore und Forschungseinrichtungen überwachten nicht nur die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner, sondern stellten auch die Arzneien und Impfungen zur Verfügung, die hier neben Lebensmitteln, sauberen Wasser und filtrierter Atemluft das Leben Aller sicherstellten.

Und wegen eben dieser Sparte war Cassius heute herbestellt worden. Er sollte Nexon Bericht erstatten. Sicherlich hatte der Chef der Einrichtung die Zusammenfassung bereits erhalten, doch er wollte es aus Cassius' Mund hören. Persönlich.
Cassius vermutete, dass dieses Vorgehen seinem Freund eine besondere Art von Genugtuung gab, die das geschriebene Wort nicht bieten konnte. Ihm sollte es recht sein. Er genoss den Status, den er sich die vergangenen Jahre mühsam erarbeitet hatte. Und er war stolz darauf, das Vertrauen des mächtigsten Mannes auf der Welt zu genießen. Denn mit der Auslöschung der Menschheit in der Außenwelt war Nexon genau das geworden. Eine Nachricht, die noch unter die Leute gebracht werden musste. Doch das war heute nicht sein Auftrag. Ein anderes Thema stand auf der Agenda.

Mit erhobenem Haupt und bedächtigen Schrittes ging Cassius auf die Sicherheitstür zu, die zum Allerheiligsten des Nex-On-Towers führte: Den opulenten und großzügigen Geschäftsräumen des Megakonzerns, ganz oben im höchsten Gebäude der Stadt. Weiter oben als hier befand sich nur noch die bunkerartige und dennoch luxuriöse Penthouse-Wohnung des Magnaten, die außer seiner derzeitigen Gespielin wohl keiner je zu Gesicht bekommen würde.

Als Cassius den Raum betrat, warf er wie immer einen andächtigen Blick aus den bodentiefen Fenstern, die eine komplette Außenseite des Zimmers einnahmen. Die Aussicht auf die von bunten Neonlichtern erhellte Stadt war auch nach dem hundertsten Mal noch beeindruckend.

Die Stadt, die sich wie ein leuchtendes Mosaik aus Neonlichtern und glitzernden Fenstern unter dem dunklen Himmel ausbreitete, pulsierte voll Leben, das sich dem Weltuntergang widersetzt hatte, um weiterzumachen mit dem, was die Menschen schon immer am besten konnten: Die drohende Gefahr zu ignorieren und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Die majestätisch anmutenden Hochhäuser aus Glas und Stahl ragten dabei fast trotzig aus der Masse an niedrigeren Wohngebäuden empor; ihre Fassaden von den wechselnden Farben der Leuchtreklamen und Werbetafeln hell beleuchtet. Die Stadt schien durch das Wechselspiel der bunten Lichter förmlich im Rhythmus ihres eigenen Herzschlags zu pulsieren.

Neonlight Shadows (ONC 2024)Where stories live. Discover now