18 | Elsie

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„Wie können diesen Menschen nur hier unten leben?", fragte Julien besorgt, als sie erneut über einen Berg aus Müll klettern mussten, der den Weg zu dem Quartier versperrte, zu dem sie seit ein paar Minuten unterwegs waren.

„Sie haben ja keine andere Wahl!", antwortete Aria mit einem Anflug von Verzweiflung in ihrer Stimme. Der Doktor hatte anscheinend keine genaue Vorstellung davon gehabt, wie schlimm die Umstände hier unten wirklich waren. Wahrscheinlich musste man es mit eigenen Augen sehen, um es zu begreifen. Damit man die Augen nicht mehr davor verschließen konnte.

„Du sagtest, dass du mich zu deinen Schützlingen mitnehmen wolltest. Wen besuchen wir?", fragte Julien, als er sich duckte, um unter einer gespannten Wäscheleine hindurchzukriechen.

„Eine junge Familie mit zwei Kindern", erklärte Aria und deutete ihrem Freund, nicht in das Rinnsal in der Mitte des Weges zu treten. „Willai ist fünf Jahre alt und Elsie sechs Monate. Dem Jungen geht es unter den schlechten Umständen noch einigermaßen gut, aber um Elsie mache ich mir große Sorgen. Ich fürchte, sie wird es hier unten nicht lange überleben."

„Hast du schon mit ihren Eltern gesprochen?" Juliens Stimme klang dabei sanft und voller Mitgefühl. Aria wunderte sich nicht, dass er Arzt geworden war. Er hatte ein gutes Herz und ein mindestens ebenso großes Bedürfnis zu helfen, wie sie selbst.

„Ich habe gestern mit ihrer Mutter gesprochen und ihr einen Tag Bedenkzeit gegeben", erklärte Aria. Dann seufzte sie laut. „Ich hoffe, sie hat mit ihrem Mann darüber geredet und sie treffen die richtige Entscheidung."

Julien schloss zu Aria auf, legte ihr einen Arm um die Schulter und sah sie durchdringend an. Im Schein der schwachen Glühbirne meinte er trotz des Dämmerlichts einen feuchten Glanz in ihren Augen zu erkennen. „Wo willst du sie hinbringen, wenn sie uns erlauben, sie mitzunehmen?"

„Hauptsache weg von hier", flüsterte Aria mit brüchiger Stimme und sah dann zu dem provisorischen Zelt hinüber, in dem die Familie hauste.

„Dort ist es", sagte sie und zeigte auf den Verschlag. „Wenn du willst, kannst du ohne mich hineingehen und dir selbst ein Bild von der Situation machen."

Julien schüttelte den Kopf. „Ich vertraue dir da voll und ganz. Wenn du sagst, dass das Baby hier nicht bleiben kann, werde ich dich unterstützen. Wir werden schon einen Weg finden, da bin ich mir sicher." Juliens Worte erleichterten das Herz der jungen Ärztin und sie nickte. Auch wenn sie immer wieder gezögert hatte, sie glaubte nun, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, als sie Julien mit in den Untergrund genommen hatte.
Gemeinsam konnte es ihnen vielleicht gelingen, ein Menschenleben zu retten.

Als Aria nach ihrer gewohnten Begrüßung den Vorhang beiseiteschob, spürte sie gleich, dass etwas nicht in Ordnung war. Statt der jungen Mutter begrüßte sie der Junge, und ein Mann kam auf sie zu. In seinem Gesicht konnte sie Ärger und Wut erkennen. Trotz seiner Jugend bildeten sich bereits erste Falten auf seiner Stirn und seinen eingefallenen Wangen.
„Bist du die Ärztin, die meiner Frau erzählt hat, dass unsere Tochter sterben wird!", fragte er voller Anklage.

Aria schluckte. Sie ahnte, dass der Mann sehr wütend auf sie war. Vermutlich hatte seine Frau ihm den vernünftigen Vorschlag in ihrer emotionalen Art erzählt, und Aria musste annehmen, dass er nicht begeistert davon war, was Aria empfohlen hatte. Dennoch wusste sie, dass sie recht hatte, und so straffte sie ihre Schultern und machte sich ein wenig größer. Es war nicht ihre Aufgabe, bei den Erwachsenen Händchen zu halten. Sie verstand ja, dass diese Entscheidung die wahrscheinlich schwerste in ihrem Leben sein würde. Und sie wünschte sich nichts mehr, als diesen Leuten zu sagen, dass alles gut werden würde. Dass Elsie nur ein wenig mehr Zeit brauchte, um an Gewicht zuzulegen und ein paar Vitamine, um nicht an einer Krankheit wie Schnupfen oder Husten zu sterben.

Neonlight Shadows (ONC 2024)On viuen les histories. Descobreix ara