16 | Der unbekannte Soldat

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Eilig führte Thalia die Ärzte in den Behandlungsraum des unterirdischen Kellers. Der junge Mann, den sie vor kurzem schwer verletzt hierhergebracht hatten, lag noch immer auf der Liege und atmete schwer. Seine Augen flimmerten, öffneten und schlossen sich wieder, und seine Lippen schienen Worte formen zu wollen, ohne dass der dazugehörige Laut seinen Mund verließ.

Julien trat sofort auf die Liege zu und kümmerte sich um den Mann, indem er ihn versorgte. Aria wollte helfen, doch Thalia zog sie beiseite. „Aria, dieser Mann muss unbedingt überleben", sagte sie eindringlich. „Was können wir tun, um dies möglich zu machen?"

„Wie lange war er denn in dem Käfig?", stellte Aria die Gegenfrage.

Thalias Mundwinkel zog sich nach oben. „Ich habe doch gar nicht gesagt, dass er eingesperrt war."

Aria grinste. „Das musstest du auch nicht. Ich sehe doch, dass er keiner von uns ist. Wie wurde er verletzt?"

„Ein Pfeil traf ihn von unten in den Rücken."

„Ein Pfeil?", fragte Aria verwundert. „Das muss ein ziemlich guter Bogenschütze gewesen sein. Die Käfige hängen ja ziemlich hoch und, so wie sie manchmal schaukeln, war das wohl ein Glückstreffer."

„Oder jemand wollte unbedingt sicherstellen, dass der Auftrag auch wirklich erledigt wird und hat seinen besten Mann darauf angesetzt!"

„Wer ist er?"
„Das wissen wir nicht."
„Wann und wo habt ihr ihn gefangen genommen?"
„Er stand vor zwei Tagen plötzlich in dem Raum hinter der Feuerleiter und hat nach dem Anführer gefragt."
„Ich hoffe, ihr habt ihn sofort aufgeklärt, dass ihr eine Frau das Sagen hat", grinste Aria amüsiert. Thalia winkte ab.
„Ich bin keine Anführerin, ich trage nur die Verantwortung."
„Habt ihr irgendetwas über ihn herausgefunden? Was wollte er?"
„Er wollte gerade darüber sprechen, als er angeschossen wurde", erklärte Thalia. „Deshalb ist es mir so wichtig, dass er uns diese Information noch geben kann. Wenn er so wichtig war, dass man ihn umbringen wollte, hat er sicherlich Informationen für uns."

Aria nickte und erklärte Thalia, wie sie den Gefangenen auch ohne ihre Hilfe für die Nacht versorgen konnten. Sie versprach Thalia auch, ihren Kollegen Benny Braks für die Nachtwache einzuteilen.

„Was ist eigentlich zwischen dir und deinem Doktor?" Der plötzliche Themenwechsel erwischte Thalia eiskalt. Dass Nova neugierig war, konnte sie verstehen, hatten sie doch schon des Öfteren über ihn gesprochen. Doch Thalias Interesse konnte sie nur schwer einordnen.

„Wir sind Kollegen!", antwortete Aria bestimmter, als sie vorgehabt hatte. „Wir arbeiten zusammen und sind auch befreundet. Das passiert wohl zwangsläufig, wenn man so viel Zeit miteinander verbringt. Warum fragst du?"

Thalia lächelte sanft und neigte den Kopf ein wenig. Jedes Mal, wenn sie das tat, kam Aria nicht umhin, ihr eine fast mütterliche Seite zuzusprechen. Wenn sie tatsächlich eine Mutter wäre, dachte Aria, würde Thalia wohl kaum Kekse in der Küche backen und auf dem Boden mit ihren Kindern spielen. Thalia wäre eine Mutter, die strenge Regeln aufstellen, doch ihre Kinder auch immer in den Arm nehmen würde, wenn sie Zuneigung brauchten.

Da sie fast zwanzig Jahre älter war als sie selbst, kam sich Aria manchmal tatsächlich wie eine Tochter vor – eine Tochter, die sie die letzten dreißig Jahre nicht gewesen war, weil ihre Eltern immer noch außerhalb der Kuppel lebten. Falls sie noch lebten.

„Ich frage für einen Freund", grinste Thalia und holte Aria damit aus ihren Gedanken zurück in den kleinen Raum mit den kahlen Wänden.
„Einen Freund?", echote Aria, unsicher, ob sie richtig zugehört hatte.
„Silas Shadowstrike hat ein Auge auf dich geworfen, meine Liebe. Und wenn du tatsächlich kein Interesse an deinem Arzt hast, wäre der Anführer unserer Soldaten sicherlich ein guter Fang." Aria zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

Neonlight Shadows (ONC 2024)Where stories live. Discover now