6 | Küchentischgespräche

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„Vitamine?", fragte Aria erstaunt, als Julien ihr von dem Gespräch mit seinem reichen Klienten erzählt hatte. Sie hatte gerade die Tür hinter dem letzten Patienten geschlossen und wusch sich nun in der kleinen Küche noch einmal gründlich die Hände. Julien öffnete indes den Kühlschrank und nahm den letzten Proteinjoghurt heraus. Als er Arias hungrigen Blick sah, nahm er zwei Löffel aus der Schublade und reichte ihr einen davon. Dankbar nahm Aria gegenüber dem Doktor am winzigen Tisch Platz und gönnte sich einen Happen. Es war spät geworden und sie hatte heute noch nicht viel gegessen.

„Das wäre einerseits wundervoll", gab sie zu, das Gespräch wieder aufnehmend. „Doch kann ich mir nicht so recht erklären, wie man auf der einen Seite Vitamin-D und Lebensmittel zurückhält und auf der anderen eine neue Vitaminspritze ankündigt. Das passt doch nicht zusammen!"

Julien ließ ebenfalls den Löffel in den Becher sinken. „Das hat mich auch irritiert", gab er zu. „Besonders, weil es vor gut einem Jahr schon einmal eine Vitaminspritze gegeben hatte, die zuerst an die Shadows verteilt worden war. Wir Privatärzte bekamen erst zwei Wochen später ein Präparat, dass auch nicht mehr Vitaminspritze, sondern Aufbaukur hieß."

„Ich erinnere mich daran", meinte Aria nachdenklich. „Ich war damals vor Ort und habe gesehen, wie einer der Med-On Ärzte einer jungen Frau die Spritze fast schon gewaltsam aufdrängte. Ich hatte damals zwar Bedenken, doch es schien mir auch sinnvoll, die Shadows mit Vitaminen zu versorgen. Leider besserte sich der allgemeine Gesundheitszustand kaum. Eine zweite Spritze müsste demnach viel stärker sein, um einen sichtbaren Effekt zu erzielen."

„Du warst doch heute dort unten", stellte Julien fest. „Wie geht es den Menschen?" Aria lächelte verschmitzt und nahm sich noch eine große Portion des Joghurts, bevor sie antwortete.

„Vor dir kann man auch nichts verbergen", sagte sie und klang dabei fast amüsiert. Julien zog verlegen die Schultern hoch. Er wollte sie nicht an die Wand stellen. Doch hatte er auch das Bedürfnis, über ihren kleinen Ausflug und etwaige Erkenntnisse ihrerseits zu reden.

„Ja, ich habe die nicht abgelaufenen Medikamente zu den Kindern gebracht. Danke dafür!", sagte sie schließlich ganz offen und schaute auf und Julien direkt in die Augen. Es war das erste Mal, dass sie so offen über ihren heimlichen Deal redeten, und irgendwie gefiel es Julien, dass dieses Geheimnis nun nicht mehr zwischen ihnen stand. Arias Augen schauten ihn durchdringend, wie auch seltsam einfühlsam an und er hatte das Gefühl, sie würde ihm direkt durch seine Augen in die Seele blicken. Konnte sie darin seine Abneigung gegen die Oligarchie erkennen? Seinen Wunsch nach einer gerechteren Welt? Und womöglich seine bisher gut verborgene Zuneigung zu ihr?

„Da war dieses kleine Baby", sagte Aria plötzlich nachdenklich. „Ich hätte sie gerne mitgenommen. Sie wird nicht durchkommen, wenn sie noch länger dort unten bleibt. Aber ich kann sie nicht ohne Erlaubnis ihren Eltern wegnehmen. Wenn ich sie nur irgendwie überreden könnte...", überlegte sie laut.

„Vielleicht kann ich einmal mitkommen und mir selbst ein Bild von der Situation machen", schlug Julien helfend vor. „Vielleicht kann ich etwas tun? Ich könnte dich unterstützen!"

Aria schüttelte den Kopf. „Die Menschen brauchen dich hier, in deiner Praxis. Und sie brauchen dich als Arzt der Reichen, denn wie sonst sollen wir an die Medikamente kommen, die so dringend gebraucht werden? Ich kann einfach verschwinden. Ich bin nur deine Assistentin. Wenn ich fehle, beschwert sich keiner. Aber wenn du fehlst, fällt es auf. Und wenn dich Nexons Schergen da unten sehen... Nein, ich kann dich nicht mitnehmen!"

Die Worte der jüngeren Frau trafen Julien mehr als er erwartet hatte. Doch sie hatte recht! Er war der Grund, dass sie heute die Möglichkeit gehabt hatte, andere zu versorgen. Dennoch kam er sich hier oben manchmal so nutzlos vor! In der Hälfte der Zeit, in der er zweimal Sodbrennen, drei grippale Infekte und dutzende andere, eher kleinere Wehwehchen der Reichen behandelt hatte, hatte er zusammen mit Aria so viel mehr geschafft. Hier waren in den letzten drei Stunden dreimal so viele Patienten mit schlimmeren Erkrankungen und Verletzungen versorgt worden, was den Arzt sowohl stolz als auch traurig und wütend machte. Das war einfach nicht richtig. Und Aria spürte, wie Julien sich vor ihr verkrampfte.

„Es ist schon spät", sagte Aria unvermittelt. Der Tag hatte sie erschöpft. „Wir sollten beide versuchen, eine Runde zu schlafen. Morgen wird sicherlich wieder genauso anstrengend wie heute", prophezeite sie.

„Hey", rang sich Julien ein Lächeln ab. „Solltest du mich nicht aufbauen, statt zu demotivieren?"

Aria lächelte entschuldigend und kratzte den Rest Joghurt aus dem Becher, bevor sie ihn mit einem gezielten Wurf im Mülleimer versenkte. „Mag schon sein", gab sie zu. „Aber nachdem wir eben so ehrlich zueinander waren, wollte ich dich nicht mehr anlügen!"

Ein warmer Blick wanderte über den Tisch, auf dem nur noch die beiden Löffel dicht nebeneinanderlagen, als wollten sie sich umarmen. „Willst du noch mit hochkommen?", hörte sich Julien ungewohnt leise fragen. Für einen ewigen Moment wagte er nicht zu atmen. Hatte er gerade eine unsichtbare Grenze überschritten? Oder verstand Aria, dass er nicht wollte, dass sie um diese Uhrzeit noch durch die halbe Stadt lief, um nach Hause zu kommen?

„Du möchtest, dass ich bei dir übernachte?" Arias Worte klangen sanft, und nicht wie erwartet tadelnd oder wütend.

„Ich möchte, dass du morgen früh wieder sicher und pünktlich auf der Arbeit erscheinst", wich Julien aus. Aria grinste erst, dann lachte sie laut. Ihr Lachen war so voller Leben und Freude, dass sich Julien davon anstecken ließ. Es war direkt befreiend, etwas anderes als Wut und Trauer zu spüren und sich einfach in ein ungezwungenes Lachen fallen zu lassen. Julien spürte förmlich, wie die Anspannung der letzten Stunden von ihm abfiel und wandte sich schließlich an Aria.

„Ich möchte keineswegs aufdringlich sein, Aria, aber ich würde mich über deine Gesellschaft sehr freuen. Ich bin so müde, dass ich sicher nicht sofort einschlafen kann, und ein wenig Unterhaltung würde mir guttun." Aria lächelte.

„Ein wenig Schlaf würde mir guttun", sagte sie und erhob sich aus ihrem Stuhl. Der Doktor nickte schwach. Wie konnte er nur erwarten, dass diese hübsche junge Frau bei ihm übernachten würde? Er war doch wirklich ein alter Dummkopf, dass er sich mehr als eine professionelle Beziehung mit der Ärztin wünschte.

„Darf ich dich wenigstens nach Hause bringen?", fragte er, während er Aria ihre Jacke reichte. Sie sollte zumindest nicht allein durch das nächtliche Nightvale laufen müssen. In den Schatten konnte es gefährlich werden. Besonders für eine schöne Frau wie Aria!

„Nach Hause?", fragte Aria plötzlich mit einem Augenzwinkern. „Ich würde gerne dein Angebot annehmen bei dir übernachten. Elijah schnarcht lauter als das nervige Luftumwälzungsgerät. Und mal ehrlich, ich würde zu gerne mal auf einer dieser himmlischen Matratzen schlafen, von denen sie immer im Fernsehen schwärmen. Denn das, was sie da zeigen, hat wirklich nichts mit den dünnen Dingern gemein, die bei uns in der Wohnung liegen!"

Julien schmunzelte warmherzig, als er Arias Begeisterung für eine Matratze vernahm, und war erleichtert, dass er sie falsch verstanden hatte. Für diese Nacht würde er das Sofa wählen und ihr großzügig das Bett überlassen. Wenn er Glück hatte, würde es dann am nächsten Morgen noch nach ihr duften.

Mit einem sanften Kopfschütteln, um sich nicht zu sehr in seinen Träumereien zu verlieren, öffnete Dr. Noir die Tür. Hinter Aria verließ er die Praxis, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu seiner Wohnung.

Neonlight Shadows (ONC 2024)Where stories live. Discover now