4 | Wo das Neonlicht Schatten wirft

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Dr Julien Noir hatte sein Medizinstudium bereits abgeschlossen, als er hinter vorgehaltener Hand von der Möglichkeit erfuhr, sich um einen Platz in der neu errichteten Stadt "New World" zu bewerben, die zumindest einen Teil der Bevölkerung retten sollte. Einige betrachteten das Ganze als Humbug und Nexor Industries als ein größenwahnsinniges Unternehmen, das lediglich darauf aus war, den Menschen bis zum letzten Groschen auszupressen, indem es einen möglicherweise nicht eintretenden Weltuntergang beschwor. Ja, es waren schwere Jahre, aber würde es nicht irgendwie gut ausgehen?

Dr Noir hatte schon lange Bedenken gehabt und verfasste seine Bewerbung noch in der Bahn auf dem Heimweg. Das öffentliche Leben war größtenteils zum Stillstand gekommen, doch als Arzt begab er sich nach wie vor täglich in die Praxis, um den Menschen zu helfen, die ebenfalls den Weg auf sich nahmen.

Julien hatte überzeugende Argumente für sein Recht, in der Stadt zu leben, die von Nexor Industries als "Arche Noah der Menschheit" vermarktet wurde. Obwohl er für einen Arzt relativ jung war, verfügte er bereits über Erfahrung und ausgezeichnete Referenzen. Außerdem stammte er aus einer angesehenen Adelsfamilie und als Waise ohne Geschwister besaß er ausreichend Vermögen, um sich in diese neue Welt einzukaufen. Tatsächlich gelang es ihm, einen Teil seines Vermögens einer eng befreundeten Künstlerfamilie zu spenden. Deren Tochter war erst sechs Jahre alt, als sie gemeinsam mit Julien und ihrem Cousin in die fremde Stadt geschickt wurde. Dort fand er eine Familie für sie, die sie aufnahm und ihr die Möglichkeit bot, die Schule zu besuchen.

Nun, mehr als fünfundzwanzig Jahre später, arbeitete das Mädchen von einst als Assistentin und aufstrebende Ärztin in seiner Praxis. Er hatte sie eingestellt, ohne zu wissen, dass es sich um die Tochter seiner Freunde handelte, doch ihre Art und ihr Aussehen hatten bald seinen Verdacht geweckt. Wie alle Bewohner von "New World", oder, wie es jetzt passender hieß, "Nightvale", hatte auch Aria ihren Nachnamen von Berger zu Blackwell geändert. Aus Neumann war rasch Noir geworden und, wie Julien bald herausfand, wurde aus Hartmann Stone.

Aria hatte den Freund ihrer Familie aus Kindertagen nicht wiedererkannt, und Julien beschloss, es dabei zu belassen. Er schätzte sie als die talentierte Ärztin, die sie geworden war, und wollte vermeiden, dass sie annahm, er hätte sie nur wegen ihrer früheren Verbindung eingestellt. Normalerweise begleitete ihn seine enge Vertraute zu den wohlhabenden Kunden und unterstützte ihn dort. Doch heute hatte er ihr freigegeben, um eine persönliche Angelegenheit zu klären. Natürlich vermutete er, dass sie sich erneut in den Untergrund begeben hatte. Sie hatte es nicht ausgesprochen, doch als er ihr gestern Abend die abgelaufenen Tetanusspritzen und Vitamin-D-Tabletten zur Entsorgung anvertraut hatte, ahnte er bereits, dass sie es kaum erwarten konnte, denjenigen zu helfen, welche die Medikamente am dringendsten benötigten.

Er war sich nicht sicher, ob sie wusste, dass die Medikamente noch nicht abgelaufen waren, oder ob sie ahnte, dass er ihr bewusst die Entsorgung übertragen hatte. Doch es schien im beiderseitigen Interesse zu liegen, nicht zu viel über die Absichten des anderen zu erfahren. Das war für ihre Sicherheit von Bedeutung. Denn letztlich handelten sie in einer Grauzone des Gesetzes. Die Neons zahlten Tribute an den Konzern, um mit Medikamenten versorgt zu werden, während die Shadows nur das Nötigste erhielten, und selbst das nur, wenn sie für die Neons arbeiteten – sei es als Putzkraft, Serviceangestellte, im Sanitätswesen oder in der Müllentsorgung. Die Aufgaben waren vielfältig, schlecht bezahlt und wer einmal krank wurde und nicht arbeiten konnte, erhielt auch keine Verpflegung. Es war besser, gar nicht erst auszufallen oder jemanden zu haben, der sich um einen kümmerte – jemanden wie Aria und die Shadow Soldiers. Diese geheime Untergrundorganisation, über die man besser nicht sprach, existierte definitiv, zumindest wenn Julien seinem Informanten vertrauen konnte. Und er vertraute ihm.

Er bezahlte Dante Darkheart zu gut, um seine Informationen in Frage zu stellen. Darkheart mochte zwielichtig sein und seine eigenen Interessen verfolgen, aber er war dennoch eine wertvolle Quelle für allerlei Informationen und die Beschaffung von Dingen, an die man sonst nicht herankam. Er war ein wandelndes Archiv der Schattenseiten von Nightvale, kannte die Namen der korrupten Konzernbosse und die Orte, an denen illegale Cyber-Deals stattfanden. Seine Informationen waren stets wertvoll, doch sie kamen nie ohne einen Preis. Doch Julien war bereit, dafür zu zahlen. Schließlich kämpften sie alle hier ums Überleben – einige mehr als andere.

Neonlight Shadows (ONC 2024)Where stories live. Discover now