11 | Im Untergrund

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Während sie die steilen Stufen zur Unterwelt hinunterstiegen, dachte Julien noch einmal an den Morgen, als Aria noch etwas verschlafen aus seinem Schlafzimmer in die Küche gekommen war. Er hatte bereits Kaffee gemacht und den Tisch gedeckt, als er von dem Anblick, der sich ihm bot, gefesselt wurde. Aria hatte sich ein Shirt von ihm geliehen, das ihr nur knapp bis über den Po reichte. Als sie nun, mit wirren Haaren und die langen nackten Beine auf den Boden setzend, auf ihn zugekommen war, war er für einen Moment sprachlos gewesen. Nur ihr sanft gehauchtes „Guten Morgen" hatte ihn aus seiner Starre geholt.

„Wir sind gleich da", hörte er nun ihre Stimme und hielt sich in der Dunkelheit noch ein wenig fester an ihrer weichen Hand fest. Nur für alle Fälle.

Die Dunkelheit trat allmählich zur Seite und machte dem dämmrigen Licht des Untergrunds Platz. Ihre Schritte hallten gedämpft in dem schmalen Gang, der sie nach ein paar Metern zu einer verschlossenen Tür führte. Aria klopfte in einem bestimmten Rhythmus und wartete auf Einlass. Jede Sekunde kam Julien wie eine halbe Ewigkeit vor, während er sich in der Enge des Tunnels zunehmend unbehaglich fühlte. Unbewusst klammerte er sich instinktiv an Arias Arm, die ihn mit einem mitfühlenden Blick bedachte.

Eine Klappe im oberen Teil der Tür wurde geöffnet, und eine dunkle Frauenstimme drang heraus. „Wofür kämpfst du?"

Für einen Moment herrschte Stille, bevor Aria mit fester Stimme antwortete: „Für Freiheit und Gerechtigkeit. Und ich habe Besuch mitgebracht!" Die Tür schwang knarrend auf, und Aria betrat den Raum ohne Zögern. Julien zog sie entschlossen mit sich, bereit, ihn den Rebellen vorzustellen.

„Aria!" Eine kleine Frau mit schwarzen schulterlangen Rastazöpfen fiel der Ärztin freudig um den Hals. „Schön, dass du hier bist! Ich habe erst morgen mit dir gerechnet."

„Nova, meine Liebe", lächelte Aria und besah sich ihre Freundin. Nova Nightingale war eine begabte Hackerin und Technikerin, die Aria und die Shadow Soldiers bei ihren digitalen Operationen schon oft unterstützt hatte. Sie hatte einst selbst unter der Tyrannei von Nexor und seinem Gefolge gelitten und ihre Familie war irgendwann freiwillig in den Schatten verschwunden.

Nova hatte sich schon früh der Rebellion angeschlossen und sich vor einigen Monaten unbemerkt in das Personendatenregister der Stadt gehackt. Dort waren alle Daten zu allen Personen gesammelt, die in Nightvale lebten oder gelebt hatten. Abzüglich derer, die im Untergrund geboren worden waren, und das waren in den letzten Jahren einige gewesen. Über diese „Schattenkinder" führte die Hebamme Maren genauer Buch, um den Überblick über die Babys nicht zu verlieren.

„Wen hast du denn da mitgebracht?", wollte Nova neugierig wissen und schaute an Aria vorbei zu Julien. Ein wissendes Lächeln legte sich um ihre vollen dunkelroten Lippen. Neckisch zog sie eine schmal gezupfte Augenbraue nach oben. „Ist das ‚Der Doktor'?", fragte sie grinsend. Aria warf ihr einen warnenden Blick zu.

„Das ist Dr. Julien Noir, mein Chef!", betonte sie etwas zu hart, um Nova zu verstehen zu geben, dass ihre privaten Anspielungen hier unpassend waren. Natürlich hatte sie ihrer Freundin schon von ihrem Doktor erzählt und Nova war selbstverständlich das Leuchten in Arias Augen aufgefallen, wenn sie von ihm sprach. Er sah ja auch nicht schlecht aus, mit seinen grauen Schläfen und dem breiten Kreuz. Er hatte ein nettes Gesicht und wache Augen, die sich in diesem Moment etwas unsicher im Raum umsahen.

„Wieso zeigst du ihm nicht den Krankenraum? Da wird er sich sicherlich mal nützlich machen können", schlug Nova vor und setzte sich gleich an ihren Rechner, um den Doktor im Personenregister zu suchen. Nun hatte sie ja endlich seinen vollen Namen. Und es war eine ganz normale Sicherheitsvorkehrung. Naja, ein wenig neugierig war sie auch.

Aria griff nach Juliens Hand und lächelte ihm aufmunternd zu. "Komm, ich führe dich ein wenig herum", sagte sie und Julien ließ sich von ihr führen, während sie durch die Räume wanderten, die wie Perlen an einer langen Schnur hintereinander aufgefädelt waren. Julien konnte nicht umhin, zu bemerken, wie die Enge des Tunnels und die rustikale Atmosphäre der Unterwelt eine gewisse Mystik und Geschichtsträchtigkeit ausstrahlten. "Dies muss einmal ein alter Bahntunnel oder ein Abwassersystem gewesen sein", dachte er, als sie weiter durch den engen Gang irrten.

Neonlight Shadows (ONC 2024)Waar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu