Kapitel 20

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Michas Wecker überhörte ich, aber als er penetrant an meiner Schulter rüttelte, kam ich nicht umher, die Augen zu öffnen.

Schließlich überwand ich meine Müdigkeit und schlurfte ins Bad, um mich umzuziehen.

Als ich wieder herauskam, saß Micha bereits am Tisch und mümmelte schlaftrunken sein Müsli. Auch mir hatte er eine Schüssel hingestellt, und so setzte ich mich ihm gegenüber.

„Gut geschlafen?", fragte ich aus Gewohnheit, und kippte mir großzügig Müsli in die Schüssel.

„Nein." Finster sah Micha auf, woraufhin ich am liebsten hinter meiner Müslischüssel verschwunden wäre. Meine Eltern hatten immer „ja" gesagt, auch wenn manchmal ein „aber" folgte.

„Wegen dir habe ich schlecht geträumt." Jetzt sah Micha schon wieder etwas gnädiger aus.

„Echt?", fragte ich, neugierig geworden. „Was denn?"

„Nach deinem Albtraum hab ich auch geträumt, dass du stirbst."

„Ein schlechtes Omen?", witzelte ich, kippte jedoch beinahe die Milch neben meine Schüssel.

„Wohl eher psychische Beeinflussung", schlug Micha vor. „Das war ganz schön gruselig, davon wachzuwerden, wie du meinen Namen rufst, als ginge es um Leben und Tod."

„Ging es ja auch." Ich lächelte schräg. „Wie bin ich in deinem Traum gestorben?"

„Sicher, dass das ein gutes Frühstücksthema ist?", fragte Micha, der im Laufe des Gesprächs immer wacher und weniger muffelig wirkte.

„Wieso nicht? Vielleicht kommt es heute ja tatsächlich zu einer solchen Situation, dann weiß ich, wie ich mich retten kann." Gelassen begann ich, mein Müsli zu löffeln.

„Nicht heute. Du hast noch ein bisschen zu Leben." Micha grinste, wurde dann aber wieder ernst. „Auf der Stufenfahrt."

„Aber da bist du doch gar nicht dabei", wandte ich ein.

„Doch, natürlich. Hab ich dir das noch nicht erzählt? Es fahren mehrere Kurse nach Scarborough, und eine der Lehrer hat darum gebeten, vertreten zu werden, weil seine Frau vor ein paar Wochen ein Kind bekommen hat. Da bin ich eingesprungen."

„Darf man das als Referendar etwa schon?", fragte ich ungläubig.

„Da bin ich mir nicht so sicher. Aber die Schulleitung hat eingewilligt."

„Na dann." Grinsend verspeiste ich den Rest meines Müslis. Micha kam mit nach Scarborogh. Auf einmal erschien die Stufenfahrt noch genialer, als sie es eh schon tat.

Diesmal parkte Micha nicht auf dem Lehrerparkplatz, wahrscheinlich, weil er nicht riskieren wollte, mit mir zusammen im Auto gesehen zu werden.

Neben mir auf den Schulhof zu spazieren schien wiederum kein Problem zu sein.

„Was für ein Fach hast du jetzt?", fragte Micha mich, während wir auf die Eingangstür zusteuerten.

„Bio", antwortete ich. „Und dann Englisch. Und du?"

„Mathe." Micha lächelte schief. „Und dann Mathe."

„Du Armer", sagte ich kichernd, und wich aus, als Micha mich am Kragen packen wollte.

„Morgen halte ich bei euch eine Mathestunde, also sei bloß vorsichtig", drohte er mir, dann verabschiedete er sich und ging zum Lehrerzimmer, während ich zum Klassenraum ging.

Wenn ich an die vergangene Nacht dachte, schwirrte mir der Kopf und ich hatte das Gefühl, zehn Zentimeter über dem Boden zu schweben. Trotzdem kam ich nicht drumherum zu bemerken, dass ich, wenn ich mit Micha redete, deutlich gelassener geworden war.

Durchaus praktisch, da ich jetzt immerhin in der Lage war, mit ihm ein Gespräch zu führen, ohne schrecklich verlegen, tollpatschig und vor allem rot zu werden.

Am liebsten hätte ich all den neuen Gefühlen in mir Luft gemacht, aber Mia kam erst fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn hineingestolpert. Obendrein wirkte sie ausgesprochen müde.

„Was ist denn mit dir los?", wisperte ich, als sie sich neben mich fallen ließ.

„Wir waren gestern Abend bei Oma", raunte Mia mir zu und unterdrückte ein Gähnen. „Sie wollte uns einfach nicht gehen lassen. Hat uns gemästet und in einem Fort geredet."

„Mästen klingt nicht schlecht", kicherte ich.

Mia stöhnte, die Lehrerin warf uns böse Blicke zu und ich versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Aber es war, als säße ich auf einem Ameisenhaufen, so hibbelig war ich.

Zu allem Überfluss musste ich auch noch aufs Klo.

„Darf ich aufs Klo?", fragte ich die Lehrerin, nachdem sie mich endlich drangenommen hatte.

„Und ich dachte schon, du hättest was zum Unterricht beizutragen", sagte sie mit einem unüberhörbar sarkastischen Tonfall. „Los, geh."

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wie der Blitz eilte ich aufs Klo, wusch mir dann ausgedehnt die Hände und betrachtete zwiegespalten mein Spiegelbild.

Einerseits fühlte ich mich hübsch wie noch nie, und irgendetwas musste Micha ja an mir finden.

Aber meine ungekämmten, strubbeligen Haare und meine Augenringe ließen mich zweifelnd fragen: Aber was?

Seufzend wandte ich dem Spiegel den Rücken zu und lief verträumt Richtung Klassenraum.

Als ich jedoch um die Ecke bog, wäre ich beinahe in jemanden hineingerannt.

„Lena!" Vor Schreck ließ Micha einen Stapel Blätter fallen. „Was machst du denn hier?"

„Ich war auf dem Klo", verteidigte ich mich. „Was machst du hier?"

„Aufgabenblätter kopieren. Typischer Referendar-Job." Resigniert ließ er den Blick über die auf dem Boden verstreuten Blätter streifen. Dann bückte er sich, und begann sie aufzulesen.

Auch ich kniete mich hin und half ihm.

„Du solltest in den Unterricht zurück", sagte Micha. Ich hingegen war nicht der Meinung, dass ich unbedingt in Bio zurückmüsse.

„Passt schon. Wir wiederholen eh nur Stoff, den ich bereits verstanden habe", winkte ich ab.

„Was macht ihr denn gerade?"

„Ökologie. Irgendwelche Diagramme auswerten. Das ist im Endeffekt immer dasselbe."

„So ist das nunmal mit Diagrammen. Wenn man das Grundprinzip verstanden hat ..."

„Micha, du klingst wie ein Lehrer!"

„Ich bin ein Lehrer."

„Hätte ich fast vergessen", kichernd versuchte ich, Micha auszuweichen, was mir nicht gelang.

„Wie war das?" Micha zog mich am Kragen zu ihm, und vor Schreck ließ ich die Blätter fallen, die ich eben noch so mühsam aufgelesen hatte.

„Ähm", begann ich, herumzudrucksen, aber Michas Blick brachte mich zum Schweigen.

Mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass wir gerade mutterseelenallein im Gang knieten, und augenblicklich begannen meine Wangen zu glühen.

Vorsichtig strich ich mit dem Daumen über Michas Wangenknochen, spürte, wie seine Hände meinen Kragen verließen und in mein Haar glitten. Seine kühlen Finger streiften mein Ohr, dann schmiegte ich meine Wange in seine große Hand, genoss das Gefühl von Geborgenheit. Sanft aber bestimmt zog ich Michas Kopf zu mir, bis ich seinen Atem auf meinen Lippen spürte.

„Ich traue meinen Augen nicht!" Beim scharfen Klang der Stimme wichen wir auseinander, als wäre der Blitz zwischen uns eingeschlagen. „Herr Korner! Was machen Sie da mit unserer Schülerin?!"

Einen Moment lang blickte ich in Michas angsterfüllte Augen, dann ließ ich den Blick zur Seite schweifen. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Der Schulleiter.




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