Kapitel 22

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Die nächsten Tage aß ich fast nur Süßes, das dafür aber in rauen Massen.

Ich trug die verlottertsten Klamotten, die ich hatte. Und das wollte schon was heißen. Ich versuchte mir bei jedem Atemzug einzutrichtern, dass Micha mir egal war, und dass es vollkommen richtig war, dass er nun Abstand zu mir hielt. Mich nicht einmal ansah, wenn wir uns in den Gängen der Schule begegneten.

Aber insgeheim dachte ich: Arschloch.

Insgeheim hasste ich ihn dafür, dass er mich ignorierte.

Insgeheim hallten die Worte, die ich dem Schulleiter entgegen geschmettert hatte, immer noch durch meinen Kopf. „Ich liebe Micha, ok?"

Nein, es war nicht ok. Und ich hasste mich dafür, dass ich es immer noch tat. Dass ich immer noch an ihm hing, während er es schaffte, mich keines Blickes zu würdigen.

Die ersten beiden Stunden am Donnerstag hatten wir Mathe, und wie angekündigt unterrichtete Micha uns. Ich meldete mich nicht, obwohl ich die Hausaufgaben hatte.

Micha beachtete mich nicht.

In Deutsch machte ich halbherzig mit, aber während der Lehrer anfangs von meinen Interpretationsvorschlägen begeistert war, gab er gegen Ende doch zu bedenken, dass man nicht das ganze Buch auf Trauer und unglückliche Liebe hin auslegen könne.

Den ganzen Nachmittag und Abend verbrachte ich damit, mich in Filmen und Büchern zu verstecken. Meine Eltern, die natürlich sofort gemerkt hatten, dass Micha mich nicht abgeholt hatte, waren taktvoll genug, nicht nachzufragen. Stattdessen drückten sie mir eine Portion Tiramisu in die Hand und nahmen mich in den Arm.

Als ich ihnen bei meiner dritten Portion Tiramisu gestand, dass Micha Lehrer an meiner Schule war, wäre meine Mutter fast vom Stuhl gefallen. Aber als sie erfuhr, dass Micha vermutlich erst dreiundzwanzig war, sah die Situation in ihren Augen wieder anders aus.

Noch einmal alles zu erzählen, erleichterte mich irgendwie.

Trotzdem hing ich am nächsten Morgen in Englisch finsteren Gedanken nach, und meine Laune besserte sich erst recht nicht, als unser Mathelehrer den Raum mit einem Stapel Arbeiten unterm Arm betrat.

Auf seine furchterregende Art klopfte er den Stapel auf dem Tisch zurecht und ließ den Blick über die Klasse schweifen.

Spätestens als er den Notenspiegel anschrieb, drohte ich die Nerven zu verlieren, und hätte Mia mir nicht ermutigend unterm Tisch die Hand gedrückt, wäre ich wohl kurzerhand aus dem Klassenraum gestürzt.

„Ein paar von euch haben gute Leistungen erbracht", sagte der Lehrer, während er die Anzahl der zweistelligen Noten eintrug. „Andere hingegen ..."

Er ließ den Satz in der Luft schweben und trug die negativen Noten ein. Sieben Leute hatten negativ geschrieben, zwei davon nur einen Punkt. Ich wurde weiß wie die Wand.

Eigentlich könnte man meinen, dass ich diese Prozedur nach all den Jahren Mathe gewohnt sei, aber sie machte mir jedes Mal aufs Neue zu schaffen.

„Manche von euch werden Schwierigkeiten haben, ein positives Halbjahreszeugnis zu bekommen", fuhr der Lehrer eiskalt fort. Als ob nicht schon genug Schülern die Knie schlotterten. „Denkt dran: Bei zu vielen negativen Halbjahren besteht ihr das Abitur nicht. Wenn es bei euch in anderen Fächern also nicht besser aussieht, solltet ihr langsam anfangen, euch anzustrengen. Eine zweite Arbeit steht noch bevor. Es ist noch nichts verloren."

Oh doch, dachte ich. Es ist alles verloren. Und die zweite Arbeit macht es nur noch schlimmer.

„Herr Korner, würden Sie mir helfen, die Arbeiten auszuteilen?"

KämpferherzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt