Kapitel 39

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"Frohe Weihnachteeen", sang Erdem und stürmte ins Zimmer.
"Heute ist Heiligabend, aber danke", lachte ich und machte ihm Platz.
"Frohen Heiligabend", korrigierte er sich selbst und zog mich in eine lange Umarmung.
"Ich hab dir ein paar Kleinigkeiten gekauft", grinste er selbstbewusst und übergab mir eine Tüte.
Neugierig zerriss ich vorsichtig das Geschenkpapier und lächelte. Eine IPhone 6 Hülle in schwarz, woran in goldener Schreibschrift unser Name stand und dazwischen ein Unendlichkeitszeichen. Ganz unten stand ein Datum. Es war das Datum, andem wir uns zum ersten Mal begegnet sind.
Außer der Hülle hatte er mir haufenweise Schmuck geschenkt und ein Parfüm von J'adore. Nicht zu vergessen waren kleine Schokoladenweihnachtsmänner mit dabei.
Unüberlegt kreuzte ich meine Arme über seinen Nacken und umarmte ihn stürmisch.
"Dankeschön", nuschelte ich, doch fühlte mich innig schuldig, da ich beiden Geschwistern nichts schenken konnte.
Sofort legte ich die Hülle über mein Handy und lächelte.
"Voll schön", gab ich als Kommentar.
Er nickte und half mir erstmal beim Aufräumen des Zimmers, da es mir die letzten Tage nicht gut ging und ich im Bett blieb. Mir war seit Tagen schwindelig und mein Blutdruck sank immer mehr. Das war nicht die einzig schlechte Nachricht. Meine alte Krankenschwester war wieder von ihrem Urlaub zurück, das hieß, dass ich wieder ihre verletzende Art zu spüren bekommen würde. So sensibel ich war nahm ich mir natürlich alles zu Herzen.
Beim Aufräumen war ich auf sämtliche zerknüllte Blätter gestoßen, die ich wissensdurstig öffnete und mir jedes einzelne Wort durchlas. Wie alt nur meine geschriebenen Texte waren.
"Ich brauche unbedingt neue Klingen, aber niemand lässt es zu."
"Ich fühle mich wie 18, so selbstständig bin ich von einen auf den anderen Tag geworden."
"Mama, Papa, Mazlum Abi, wo seid ihr? Wir sind eine Familie, wieso holt ihr mich nicht ab? Wieso habt ihr eure Tochter wegen einem Streit verlassen?
"Noch nie hatte ich so einen Wunsch, wie diesen: Einfach von hier zu flüchten."
"Allah lass mich schnell und ohne Schmerzen sterben. Ich verlange nichts weiteres als diesen Wunsch."
"Sie machen mir hier das Leben zur Hölle."
"Ich bin ein krankes Objekt für jeden hier. Ich sehne mich nach der Freiheit."
Mittlerweile stand Erdem vor mir und las sich eines der Einträge durch.
Danach sah er zu mir und schien recht autoritär zu wirken.
"Wie lang schreibst du das schon?"
"Meine Psychologin hat mir gesagt, dass ich es probieren soll. Ich habs getan, aber seit Monaten aufgehört", beantwortete ich ihm seine Frage und sah schüchtern weg.
Wie konnte er es nur wagen, einfach in meine Privatsphäre einzudringen und sich alles bis zum letzten Punkt durchzulesen?
"Du darfst dich nicht schämen, wenn du jemandem deine Gefühle schilderst."
"Ich schäme mich nicht."
Hier hatte ich sowieso keine Rechte. Jeder drang ohne zu fragen in meine Privatsphäre ein, ohne auch nur auf meine Gefühle zu achten, also wieso rum diskutieren?
Zügig verstaute ich all die Sachen in die Schublade. Unerwartet kam Aylin herein und hatte mehrere Waffeln in ihrer Hand.
"Frohe Weihnachten mein Schatz", nahm sie mich in den Arm und gab mir einen Kuss auf die Wange.
"Wir haben Heiligabend", korrigierte sie Erdem, was mich schmunzeln ließ.
Nachdem sie sich zu uns gesellte, aßen wir die Waffeln zu dritt auf und tranken danach heißen Tee, den Aylin ebenfalls mit dabei hatte. Sie hatte mir eine Kette geschenkt, die aus hellem Silber bestand. Mit dabei war ein Diamantstein, eine sehr schlichte und elegante Kette mit Diamantohrringen.
Wir machten uns einen angenehmen Abend, bis die Zeit allmählich verging. Aylin hatte noch soviel zu erzählen, pausenlos war sie am reden, während Erdem sich zurückzog, da wir eher über Mädchenkram redeten und er beschloss, zu gehen.
"Dir noch Gute Nacht", flüsterte er müde und ging. Er konnte mich schlecht vor Aylin umarmen.
Wir redeten weiter, dabei fing ich an sie zu fragen, was jetzt in Zukunft passieren würde und ob sie überhaupt schwanger war.
"Ich war mit Serhat beim Frauenarzt. Es ist alles gut, nur wir haben beide so Angst. Unsere Eltern kennen sich mittlerweile, aber so schnell mit der Hochzeit, das wird alles noch dauern, monatelang."
Sie schien frustriert zu sein. Ihr Bein zitterte und sie selbst fühlte sich überaus unwohl.
"Serhat meinte, auch wenn es nicht klappt, wäre er bereit dazu seine Familie für mich aufzugeben."
"Wie süß", lächelte ich.
"Gibt euer Bestes, unterstützt eure Eltern, damit alles zügig geht, aber komisch, dass du früher als Erdem heiratest."
Sie lachte und lenkte vom Thema.
"Özlem ich möchte dich etwas fragen, aber du musst wirklich ehrlich sein."
Ich nickte und sah sie eindringlich an.
"Ich beobachte euch beide schon lange und hätte niemals damit gerechnet, dass aus euch überhaupt Freunde werden. Wie hast du es geschafft, dass mein Bruder sich so sehr für ein Mädchen interessiert? Du musst ihn zu Hause mal erleben, sogar dort redet er über dich. So sehr mag er dich, dass es nun unsere Eltern wissen. Ich hab die Hülle gesehen, sag mir endlich seit wann ihr schon in einer Beziehung seid!"
Sie war meine beste Freundin und ehrlich gesagt sollte sie es auch wissen.
"Ich bin mir nicht sicher, ob wir zusammen sind, aber wir haben uns geküsst."
Wie es sich anhörte. Wir haben uns geküsst. Innerlich freute ich mich schon.
Sie kreischte auf und grinste teuflisch.
"Macht ihr das oft?"
"Nein! Nur zwei Mal bis jetzt."
Endlich war ich mit der Sprache raus. Nun wusste es meine beste Freundin und diese schien ganz schön begeistert zu sein. Sie konnte ihr Grinsen einfach nicht verkneifen. Ich warnte sie Erdem nichts zu sagen, da ich selbst noch alles einordenen musste und Erdem, wie ich, alles, außer die Situation zwischen uns, in den Vordergrund zog.
"Wir beide wissen, dass es schwer wird, wenn wir jetzt auf die Beziehung eingehen. Ich will hier einfach erstmal raus, dann hab ich wenigstens auch richtige Ziele und Zukunftspläne."
"Du hast Recht. Aber verprich mir eins, bleib bei Erdem Abi, egal wie schlecht die Lage ist. Er hat sich extra für dich eine Wohnung gekauft, damit du nicht wieder bei falschen Leuten wohnst und auf den falschen Weg kippst. Er tut im Moment alles, nur damit du dich wohl fühlst. Man sieht es ihm zu Hause an. Er kann sich nicht einmal mehr auf seine Arbeit konzentrieren, so sehr macht er sich Sorgen um dich."
"Er hat alles für dich aufgegeben. Manchmal denke ich, er ist süchtig nach dir", kicherte sie leise, doch ich bemerkte, wie traurig sie es machen würde, wenn ich und Erdem getrennte Wege gehen würden.
"Meine Eltern haben ihn natürlich gefragt, was die Sache Özlem betrifft. Er hat sich nicht allzu detailliert darin geäußert, aber er hat gemeint, dass du eine Art Mission bist."
Ich musste mich automatisch an die Szene erinnern, als er sagte, dass ich so kompliziert wäre, dass man extra einen Beruf zu mir erfinden könnte.
"Ich hab schon an Tag eins gewusst, dass zwischen euch was wird, aber auch hab ich gedacht, dass die Özlem ihn ignorieren würde. Später hab ich die Hoffnung aufgegeben und jetzt erfahr ich, dass ihr euch geküsst habt? Zum Glück hast du einen Vernünftigen abbekommen", grinste sie.
"War er nicht früher dauerhaft feiern?"
"Ja schon, heute geht er immernoch feiern, aber wenn nur freitags."
"Besser als mehrmals in der Woche", lächelte ich.
Sie blieb noch eine Weile, ging jedoch relativ schnell, da sie zu Hause noch viel zu tun hatte.
Allein beschloss ich mich einfach auf die Fensterbank zu setzen und in die Ferne zu starren, da es allmählich dunkel wurde und winzige Sterne zu beobachten waren. Kurz davor machte ich alle Lichter aus, als mir die Krankenschwester das Essen übergab und setzte mich auf die Fensterbank.
Bald würde ein neues Jahr starten. Wie jedes Jahr erträumte ich mir ein Ende, an dem alles gut wird, doch wie jedes Jahr endet es für mich wie ein brennender Schicksalsschlag.
Im Kopf drehte sich die Zeit zurück, als Erdem mich zum Dach geführt hatte, damit ich das riesen Feuerwerk an Silverster hautnah miterlebe. Damals hatte er sogar an dem Tag meine Stirn geküsst. Jede einzelne Geschichte über uns hatte ich in meinem Kopf eingeprägt.
Mein Handy vibrierte, weswegen ich abhob. Es war Erdem.
"Ja?", fragte ich und machte den Lautsprecher auf laut.
"Was machst du grad?", fragte er mich ruhig und gähnte.
"Nichts, bin im Zimmer und sehe mir die Sterne an und du?"
"Bin gerade draußen, frische Luft halt, wollte dir nur sagen, dass ich morgen zu einem Geschäftsessen muss. Mein Vater hat es kurzfristig erfahren."
"Kommst du morgen also den ganzen Tag nicht?"
"Nein, wir fahren nach Berlin, danach besuchen wir wenn möglich noch unsere Bekannten."
"Okay, pass auf dich auf."
"Warum heute so offen?", lachte er, was mich zum schmunzeln brachte.
"Soll ich Aylin morgen schicken?"
"Nein ich ruhe mich morgen lieber aus. Zur Zeit schlafe ich so unruhig."
Wieder entstand Stille.
"Rauchst du?", fragte ich ihn, als ich jedes Geräusch intensiv wahrnahm.
"Nein, nein."
"Ich lege dann mal auf. Gute Nacht", flüsterte ich beinahe schon und legte, nachdem er mir eine gute Nacht wünschte, auf.
Meine Tür klopfte plötzlich und es war niemand weiteres als die Krankenschwester zu sehen.
"Willst du verhungern oder was?"
Ich zog mich zurück und schwieg.
Seufzend nahm sie wütend das Tablett und schloss die Tür ab.
Ich war es nicht gewohnt, dass man die Tür wieder abschloss. Mittlerweile schloss man meine Tür nicht mehr ab, doch anscheinend rafft es diese Frau einfach nicht. Blitzschnell stand ich auf und latschte zur Tür.
Fest klopfte ich gegen die Tür.
"Machen Sie die Tür auf!", wurde ich laut und machte das Licht an.
"Bitte!", schrie ich laut und fühlte mich sofort wie eingeengt.
"Machen Sie die Tür auf!", kreischte ich erneut und fing an zu weinen.
"Ich will das nicht!"
Entsetzt rutschte ich die Tür herunter und schlug gegen die Tür. Mir kam es so vor, als würden sich die Wände immer mehr verkleinern. Das Gefühl, was anfangs da war, war wieder da. Ich fühlte mich wie früher. Genau diese Aktion hatte sie früher abgezogen, mich eingeschlossen, sodass ich Platzangst bekam.
Inzwischen schwitzte ich wie verrückt, doch versuchte alles zu verdrängen, indem ich das Fenster auf Kippe öffnete und die Badezimmertür ebenfalls öffnete, um wenigstens meine Platzangst abzutöten.
Das kalte Wasser ließ ich auf mein Gesicht klatschen und versuchte zu mir zu kommen. Immer wieder diese Rückfälle, die mich in die Vergangenheit fühlen ließen.
"Sie hat dich nur eingesperrt, ignoriere sie", flüsterte ich vor mich hin und versuchte mich abzulenken, doch schreckte, als mir immer wieder die Bilder in den Sinn kamen, wie klein das Zimmer immer mehr nur wurde.
Schnell drückte ich auf den Notfallknopf an meinen Bett, mehrmals, doch vergebens. Mir kam es so vor, als hätte die Zeit gestoppt, als wäre die ganze Welt wie erfroren.
"Nein, nein!", quietschte ich aus mir und hielt meine Ohren zu.
Plötzlich platzte eine Krankenschwester ins Zimmer und kniete sich zu mir runter. Mit beiden Händen wollte sie mich heben, bis ich auswich.
"Fassen Sie mich nicht an."
Schnell wusch ich mir meine Tränen weg, stand auf und sah sie an. Es war eine andere Krankenschwester.
"Ich wurde eingesperrt, obwohl ich längst aus dieser Phase raus bin! Wegen euch, alles wegen euch! Wegen euch werde ich rückfällig und schaffe es nicht! Ihr Teufel!", schrie ich weinend aus mir.
"Frau Rashid was genau ist denn vorgefallen?"
"Was passiert ist? Diese alte Giftratte hat mich hier eingesperrt, dabei weiß sie ganz genau, dass es längst verboten ist. Ich hab es hier garnicht mehr ausgehalten!"
Mit meinem Finger zeigte ich auf sie, nachdem sie erschien.
Wütend schnappte ich mir mein Handy und wählte Erdems Nummer.
"Özlem?"
"Erdem! Komm hier hin", sprach ich und versuchte gerade noch meine Heulattacke zu verdrängen.
"Was ist passiert?"
"Komm einfach, bitte", flüsterte ich und legte auf.
Zum ersten Mal hatte ich ihn zur Hilfe gerufen. Er hatte Recht, unsere Bindung wird immer vertrauter.
"Die Besucherzeit ist längst zu Ende!", schrie sie mich an, was mich zusammen zucken ließ.
"Was soll dein Freund schon machen? Nur weil du selbst nicht in der Lage bist etwas zu klären Özlem? Frau Meyer ich kümmer mich schon darum."
Sie nickte und ging. Was ist das hier für ein Personal? Was sind das für Menschen?
"Ich versteh nicht, was Ihr Problem ist, dass sie mich immer so runterziehen", flüsterte ich erniedrigt und schluchzte.
"Mir ging es viel besser, aber nein, jemand muss ja mal alles wieder kaputt machen."
Mit einem harten Blick verließ sie das Zimmer und ließ mich in dieser qualvollen Lage allein. Entsetzt wusch ich mir meine Tränen weg und wartete auf Erdem, der nach zehn Minuten erschien.
"Was ist los?", fragte er, als ich ihm und dem Hals fiel und anfing, sein Oberteil vollzuweinen.
"Ich merk jetzt schon, dass ich das nicht schaffen werde."
"Was hat denn dazu geführt?", fragte er sanft und zwang mich in seine Augen zu schauen.
"Diese eine Krankenschwester ist wieder vom Urlaub zurück, sie macht mir das Leben zur Hölle. Dauernd macht sie mich fertig."
"Wein nicht Melegim", flüsterte er und wusch jede Träne weg, weswegen ich vor mich hinlächelte.
"So und nicht anders" erwiederte er mein Lächeln.
"Was ist noch passiert?"
"Sie hat mich eingesperrt und aufeinmal war alles..alles war so klein. Ich hab Platzangst bekommen", wurde ich am Ende leiser und sank meine Blicke. Erst jetzt bemerkte ich, wie groß er eigentlich war.
"Ich sorge dafür, dass man dich in ein anderes Zimmer versetzt. Das wird anschließend zu Konsequenzen für sie führen. Du beschwerst dich jetzt schon zum vierten Mal."
Entrüstet sah er zu mir herunter und strich durch meine Haare.
"Änder dich nicht wegen solchen Menschen. Geh deinen Weg."
"Achja nochwas", grinste er.
"Kopf hoch Prinzessin, sonst fällt die Krone runter."
Lächelnd erhob ich meinen Haupt und bekam einen sanften Wangenkuss.
"Danke, dass du gekommen bist", nuschelte ich als Dank und löste mich von ihm.
"Geh jetzt schlafen. Ich gehe direkt zum Chef, mir egal, wo der steckt. Hauptsache du bist die schnell los."
"Lass dich nicht runtermachen", sprach er erneut, worauf ich nickte.
Dabei zersauste er meine Haare, umarmte mich kurz und ging, nachdem er mir eine gute Nacht gewünscht hatte.
Zufrieden legte ich mich ins Bett und schlief.
Der nächste Morgen fing schon schlecht an. Durch ein komisches Gefühl in mir stand ich auf und lief eilend zum Bad. Ich musste minutenlang würgen, pausenlos, sodass mir mittlerweile die Luft fehlte, doch irgendwie hatte ich es doch überlebt. Diese Schwindelgefühle hatten zugenommen, doch ehrlich gesagt wunderte ich mich darüber, wieso ich seit langem nicht wieder umgekippt war. Schnell machte ich mich frisch, machte mir einen hohen Zopf und beschloss ein wenig frische Luft zu schnappen. Es regnete leicht, doch es machte mir nichts aus. Wie tagtäglich hatte ich nicht viele Möglichkeiten, um zu spazieren, doch ehrlich gesagt hatte ich mich damit abgefunden. Stumm blieb ich an der Telefonzelle stehen und musste mich ungemein daran erinnern, als ich zu Hause angerufen hatte. An dem Tag hatte es stark geregnet und ich hatte vor mich hingeweint, wie ein Kind.
Abrupt schüttelte ich meine Gedanken weg und drehte mich um. Es war ein komisches Gefühl. An jeder Stelle hier in der Psychiatrie war etwas vorgefallen. Jedes Stück Quadratmeter ließ Erinnerungen stehen, eine Art Denkmal für meinen Kopf.
Mittlerweile wurde mir Tag zu Tag immer mehr klar, dass ich nicht gesund bin, nein, diese Psychiatrie hatte mich gekränkt. Allein der Umgang mit den Patienten war schrecklich, man fühlte sich wie ein Idiot, der nichts auf die Reihe bekam. Inzwischen betete ich jeden Abend nur für meine Entlassung, auch, wenn das Leben draußen schwierig sein würde, mit Erdems Hilfe würde ich alles hinbekommen, vielleicht auch meine Bildung nachholen können.
"Guck da ist sie. Sie redet mit Niemandem und ist schon so lang hier", hörte ich hinter mir und entdeckte eine Frau, die hier selbst die Psychiatrie besuchte. Wahrscheinlich war der Mann neben ihr einfach nur ihr Freund, der sie grad besuchte.
Beide drehten sich sich sofort weg und gingen ein Stück weiter. Wieso musste sie ausgerechnet über mich sowas sagen? Ich rede mit Menschen, was erzählt sie für einen Schwachsinn? Oder war es in der Gesellschaft eine niedrige Leistung, die ich von mir zeigte?
Betroffen ließ ich mich auf die Bank nieder und fiel in Gedanken.
Wieso hat diese Frau über mich geredet? Falle ich hier auf oder ist es einfach nur die Frau, der ich aufgefallen bin? Ich fühlte mich ehrlich gesagt etwas verarscht. Meinte Erdem nicht, dass ich mich enorm zum Positiven geändert hatte? Ich sprach doch, sprach ich echt so wenig?
"Sofort rein", hörte ich hinter mir und drehte mich zu der teuflich aussehenden Krankenschwester, die in schnellen Schritten auf mich zu kam. Ruckartig packte sie mich fest am Arm und schubste mich nach vorn. Mit feuchten Augen versuchte ich sie von mir zu lösen, da mein Arm weh tat und der Schmerz sich weiter vermehrte.
"Hast du dir eine Erlaubnis genommen? Stell dir vor, wir hätten dich nicht gesehen und die Polizei benachrichtigt!", schrie sie mitten auf dem Flur und schloss mein Zimmer auf. Mit voller Wucht schubste sie mich in mein Zimmer und schloss das Zimmer ab. Mit meinem Hintern landete ich auf dem Boden und zischte. In der Ecke des Zimmer versteckte ich mich und fing an zu weinen. Während des Weinens spürte ich wie früher das Bedürfnis, mich zu schneiden. Mich so gewaltig zu verletzen, dass ich sterbe. So sehr sehnte ich mich nach dem Tod.
Im Bad schlug ich mit dem Kamm leicht gegen den Spiegel, sodass an der Seite Risse entstanden und ich mir darauf Glasteile herausschlagen konnte, was eine Arbeit von zwei Minuten war und ich mich gierig auf den Boden setzte. Mit dem scharfen Gegenstand durchfuhr ich jede alte Narbe und erneuerte diese. Dazu fügte ich immer mehr Narben zu und zischte, da ich es schon lang nicht mehr so wuchtig getan hatte. Es floss haufenweise Blut auf meinen Beinen. Meine Sucht verging nicht, nein, ich nahm immer mehr an Depression zu, sodass meine komplette Vergangenheit auf meinem Arm dargestellt wurde.
"Ich hasse euch", keuchte ich weinend, lehnte mich an die Wand und schloss meine Augen.
"Für mein ganzes Leben seid ihr verantwortlich geworden", zischte ich klagend und ballte meine Hand zu einer Faust, in der sich das Teil des Spiegels befand und ich förmlich spürte, wie meine Hand von innen aufgeschlitzt wurde.
"Merve Rashid und Ahmed Rashid, ihr seid für mich entgültig gestorben!", kreischte ich durchdringend aus mir, sodass ich mir wünschte, dass mich das ganze Universum hört. Zum ersten Mal fühlte ich es in mir, meine seelische Krankheit, meine verletzte Psyche. Das Gefühl meiner Depression strahlte in mir. Ich war krank, ich war seelisch gekränkt. Mein Verhalten war und ist immernoch unmenschlich. Erst jetzt verstand ich, dass ich nicht wie die Menschen da draußen war. Ich war abgemagert, hässlich und  selbst eine Unterhaltung mit einem normalen Menschen fällt mir schwer. Durch diese Lage war ich nicht kommunikativ, ein komplett fremdes Verhalten für die Menschen da draußen. Die Blicke von Aylin, der Mitleid, mein auffallendes Äußeres, ich war krank.
Mein Herz klopfte enorm, schon spürte ich meine Kreislaufprobleme. Auf dem kalten Boden legte ich meinen Kopf und schloss meine Augen. In zehn Minuten würde ich verbluten. Es war die Frage der Zeit, der Zeit, die den Zeitpunkt bestimmt. Dieser Zeitpunkt wäre mein glückliches Ende. Ich, Özlem Rashid würde in Ruhe sterben und das Leben im Himmel erwartete mich. In meinem Kopf schoss mir ein Bild, ein Bild, in dem ein Engel auf Erden seine Arme zum Himmel streckte. Dieser Engel hieß Özlem Rashid.

ÖzlemWhere stories live. Discover now