Der Lauf

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Olivia p.o.v.

Der Tag verging langsam. Die Stunden zogen sich wie Kaugummi. Heute hatte ich keinen einzigen Kurs mit Alessandro. Ich sollte erleichtert sein. Schließlich bedeutete das keine Ablenkung, keine weitere Versuchung.

Aber trotzdem fühlte ich nur Enttäuschung. Frustration. Ich wollte, dass Alessandro mich ablenkte. Dass er mich in Versuchung trieb. Ich wollte einfach, dass er da war. Meine Zeit mit ihm verbringen.
Oder na ja, ein Teil von mir wollte das. Ein Teil, der immer größer wurde...

Es kam mir vor, als würde ich ihn immer mehr wollen, je näher ich ihm kam. Als wäre er eine Droge, von der ich nun gekostet hatte, aber nicht genug bekommen konnte. Von der ich mehr brauchte.
Es war vielleicht nicht sonderlich nett, ihn mit einer Droge zu vergleichen. Aber es traf irgendwie ziemlich gut zu.

Obwohl,... wahrscheinlich konnte ich ihn auch mit einer Süßigkeit vergleichen. Eine Süßigkeit, die einfach so vor meiner Nase dalag, in Reichweite. Von der ich aber wusste, dass ich sie nicht nehmen durfte. Weil sie mir nicht gut tun würde.
Nur, dass es zwischen mir und Alessandro genau andersrum war. Ich würde ihm nicht gut tun.
Deshalb musste ich irgendwie meine Selbstbeherrschung wiedererlangen.

Ob es dafür eine Art Kurs gab?

"Olivia, geht es Ihnen gut?", vernahm ich plötzlich die besorgte Stimme von Frau Koch.

Blinzelnd sah ich zu ihr auf.
"Jaja, alles bestens. Sorry, bin nur ein bisschen müde."

Der besorgte Ausdruck klärte sich nicht ganz, aber sie nickte verständnisvoll.

"Okay. Vielleicht solltest du zusehen, dass du in den nächsten Tagen mehr Schlaf bekommst."

Ich nickte.
Oh Mann. Da war Alessandro nicht einmal da, und trotzdem lenkte er mich ab. Sodass es selbst die Lehrer bemerkten.
Zum Glück war das hier Frau Koch. Die Freundlichkeit in Person. Wo andere Lehrer mich ermahnt hätten, erkundigte sie sich nur besorgt.

Was vielleicht auch daran lag, dass ich sonst immer gut im Unterricht mitmachte. Kunst war eins meiner Lieblingsfächer.

Den Rest der Stunde brachte ich irgendwie über mich.
Dann war die Schule auch endlich zu Ende.
Na ja, zumindest für die meisten. Ich hatte heute noch Leichtathletik. Obwohl Werwölfe es liebten zu laufen, war ich die Einzige in diesem Verein, der hier in der Schule stattfand.
Kein Wunder. Die anderen hatten ihren Auslauf im Wald. In ihrer Wolfsgestalt. Tja, ich konnte mich nicht verwandeln, wenn ich meine Lebenszeit nicht noch mehr verkürzen wollte.
Also hatte ich mich entschieden als Mensch zu laufen. In dem Leichtathletik-Verein.
Denn ich war ein Werwolf. Das Laufen machte mir Spaß.

Also ging ich nach dieser Stunde runter in die Umkleiden der Sporthalle. Ich war die Erste dort. Daher zog ich mich schon mal um. Dann tauchten auch bereits die anderen auf.
"Hey, Liv. Wie geht's?", fragte Mira.

"Ganz gut. Nur ein bisschen müde. Und dir?"

"Uhh, frag nicht. Ich hab heute einen Franztest geschrieben. Unterirdische Leistung, das weiß ich jetzt schon. Aber Herr Schäfer wird mich schon dazu bringen, dass ich nur noch ans Laufen denken kann."
Den letzten Satz stieß sie in einem gequälten Seufzen aus.

Ich grinste schief. Allerdings. Herr Schäfer, der diesen Verein leitete, brachte uns oft an unsere Grenzen.
Was mir nur Recht war.
Als Werwolf war ich noch unterfordert. Was ich natürlich niemandem zeigen durfte. Trotzdem war das bisschen Sport ganz gut. Besser als nichts.

"Sieh's positiv: nach dieser Stunde bist du so fix und fertig, dass du diesen Test bestimmt schon längst vergessen hast."

Sie warf mir einen gespielt bösen Blick zu, aber ich konnte dennoch das leichte Zucken ihrer Mundwinkel sehen.

"Danke für diese aufmunternden Worte, Miss Beste-Läuferin.", sagte sie ironisch.

Ich lächelte sie unschuldig an.
Nachdem sie fertig war mit Umziehen, gingen wir mit den Übrigen in die Halle. Zur Sicherheit hatten wir leichte Westen dabei. Man konnte nie wissen, ob Herr Schäfer die Stunde nach draußen verlegte.

Die Jungs waren schon da und hatten sich auf die Bänke gesetzt.
Wir taten es ihnen gleich. Dann klatschte Herr Schäfer auch schon in die Hände.

"Hallo, liebe Leute. Da heute so ein schönes Wetter ist, werden wir draußen laufen. Ihr kennt vom letzten Jahr bestimmt noch den schönen Weg durch den Wald. Einmal durch und dann wieder zur Schule. In maximal 20 Minuten. Kommt."

Und damit drehte er sich um. Schweigend folgten wir ihm durch eine Tür nach draußen.

"Schönes Wetter?", flüsterte Mira mir schnaubend zu. "Es scheint nicht mal die Sonne. Und es ist kalt."

Es stimmte, das Wetter war wirklich nicht das Beste: dunkle Wolken verdeckten den Himmel. Kalt fand ich es trotzdem nicht, aber ich war ja auch nicht so sensibel wie ein Mensch.

"Du kennst doch den Schäfer.", flüsterte ich leise zurück.
"Schlechtes Wetter bedeutet bei dem mindestens Windstärke zehn. Oder 50 Zentimeter hoher Schnee."

Daraufhin grinste Mira.

"Stimmt."

"Okay, 20 Minuten ab jetzt! Los los!", herrschte uns Herr Schäfer da auch schon an.

Schnell liefen wir los.
Es dauerte ein paar Minuten, da ich es zuerst immer langsam anging, aber dann war ich auch schon an der Spitze.
Ließ die anderen immer weiter hinter mir. Natürlich achtete ich darauf, nicht zu schnell zu laufen.
Aber ich wollte ja auch nicht zu langsam laufen.
Mit den Jahren hatte ich ein gutes Mittelmaß gefunden. Zwar lag ich dabei immer vorne, aber das machte mir nichts aus.

Ich lief schon ziemlich lange, als ich ein Kribbeln im Nacken spürte. Wie heute Morgen.
Nervös blickte ich mich um.
Auf beiden Seiten war ich von Wald umgeben.
Die anderen waren zu weit hinter mir und vor mir war auch keiner.
Der Beobachter musste also im Wald sein.
Aber wer war es?

Ich lief weiter, um meinen Beobachter nicht misstrauisch zu machen und lauschte angestrengt. Doch nichts als das Rauschen der Blätter im Wind drang an meine Ohren.
Auch konnte ich nur den frischen Geruch der Fichten und Nadelbäume vernehmen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen lief ich immer noch weiter.

Sollte ich mein Tempo anziehen? Um schnell bei der Schule anzukommen? Aber das würde nicht unbemerkt bleiben. Und wegen eines bloßen Gefühls konnte ich nicht riskieren, uns Werwölfe zu verraten.
Sollte ich dann eher mein Tempo verlangsamen? Warten, bis die andern zu mir aufschlossen?

Das konnte zwar dauern, aber es war immer noch die beste Möglichkeit. Also verlangsamte ich meine Geschwindigkeit. Ich stoppte nicht. Wer auch immer mich beobachtete, könnte das als Warnsignal auffassen, dass ich ihn oder sie entdeckt hatte.
Nein, ich tat einfach so, als hätte ich Seitenstechen. Das passierte jedem einmal.

Ich fing an zu keuchen. Natürlich nur gespielt. Langsam lief ich weiter. Wartete auf die anderen.
Doch sie kamen nicht. Wie weit entfernt waren sie?
Das mulmige Gefühl in meiner Magengrube wurde immer stärker. Genau wie das Kribbeln in meinem Nacken.
Verdammt. Was sollte ich tun? Vielleicht doch losrennen? Aber damit würde ich meinen Beobachter, wer auch immer er war, vielleicht dazu anstacheln, anzugreifen.
Und es war noch ziemlich weit bis zurück zur Schule.

Vielleicht sollte ich umkehren? Zu den anderen gehen? Es würde zwar ein deutliches Signal an meinen Beobachter senden, aber...

Bevor ich den Gedanken zu Ende führen konnte, hörte ich plötzlich etwas. Erschrocken riss ich den Kopf nach links. Zweige knackten, und ich hörte ein Tier näherkommen. Dann sah ich es auch schon: ein Wolf.
Ein Wolf kam auf mich zugerast.
Und er war nicht mehr weit entfernt.
Scheiße.

I'm sorry, MateWhere stories live. Discover now