Tante Bettina

399 14 1
                                    

"Und deswegen wäre es ratsam, wenn du abnehmen würdest!" Gelangweilt höre ich der Person nur so halb zu, die mich volllabert. Eine meiner Tanten. Ich bin ihr schon lange ein Dorn im Auge. Nicht nur, weil ich auf dieser Seite der Familie das einzige Mädchen bin, welches mir bei meinen Großeltern einen Vorteil verschafft hat, sondern eben auch, weil ich dick bin. Während sie und ihre Familie alle gertenschlank sind, bin ich eben nicht die dünnste. Zwar sind meine Eltern auch nicht gerade mit Modelmaßen gesegnet, aber das lässt sie außen vor. Mit mir könne man noch reden. Wie sehr sie sich da täuscht. Ich bin nicht umsonst so dick. Nur weiß sie nicht, was zu meinem Gewicht geführt hat. Mobbing. Stress. Frust. Wut. Einsamkeit. Ich fühlte mich von allen verlassen und habe meine einzige Freude im Essen gefunden, was man heute eben sieht.

Diese Ansage bekomme ich nun schon zum... hm... ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, zum wievielten Mal sie mir das jetzt predigt. Egal. Die Familienfeier ist eh bald vorbei und so kann ich ihren Klauen entkommen. Das Ding ist... ich bin schon am Abnehmen. Nur ist das erstens so langsam, dass sie es nicht mitbekommt und zweitens habe ich ihr das nicht gesagt. In meinem Beruf als Arzthelferin in einem großen Klinikum bin ich eben den ganzen Tag auf den Beinen. Ich stehe in der Früh auf, frühstücke, laufe vier Stunden herum, hole mir eine belegte Semmel vom Bäcker und laufe dann wieder vier Stunden herum, ehe ich in meiner Wohnung dann erschöpft ins Bett falle, nachdem ich etwas gegessen und ein wenig geschrieben habe, um mich zu entspannen. Allein dieser Zustand, dass ich keine Zeit mehr fürs Essen habe und, dass ich mich anders ernähre und gezwungenermaßen Sport treiben muss, bringt mich schon runter. In den zwei Jahren habe ich 10 Kilo abgenommen. Scheint sie nur nicht zu merken.

Seufzend nickt sie mir zu. "Verstehst du? Es ist wichtig." Mein Kopf ist auf meiner Hand gestützt, die wiederum mit dem Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt wird. "Weißt du...", fange ich an und richte mich ein wenig auf. "Ohne unhöflich wirken zu wollen, Tante Bettina. Aber..." Leicht lächelnd schüttle ich den Kopf. "Es ist mir egal." Kurz werden ihre Augen groß. Gewöhnt, dass jemand gegen ihre Meinung spricht und sie nicht mit einem Nicken annimmt und ihr dankt, ist sie es nicht. Auch ich habe das eine Ewigkeit getan. Nur habe ich nun endlich den Mut gefunden, den teuflischen Kreis zu durchbrechen. "Jetzt mal ehrlich. Du ziehst mich bei jeder Familienfeier auf die Seite. Bei jeder. Es gab keine einzige Ausnahme." Immerhin sitzen wir gerade auf der Terrasse und somit von den anderen getrennt. "Und jedes Mal ist es das gleiche. Ich soll abnehmen. Jedes Mal." Kurz sehe ich auf die Seite, um die richtigen Worte zu finden. Denn normalerweise würde ich ihr das, was ich denke, einfach gegen die Stirn klatschen.

Gelassen blicke ich wieder zu ihr. "Vielleicht sollte es dir einmal auffallen. Aber das, was du sagst, prallt an mir ab. Es ist mein Körper. Ich bedanke mich ein letztes Mal dafür, dass du dir um meine Gesundheit sorgen machst. Sehr gütig, danke. Aber ich bin 21, Tante Bettina. Ich weiß, wie ich was zu machen habe. Und ob du es glaubst, oder nicht. 10 Kilo sind schon weg. Aber nicht wegen dir. Sondern durch meine Arbeit. Und wenn dir nicht aufgefallen ist, dass die weg sind..." Ich lasse eine kurze Pause entstehen. "Und das ist eigentlich bisher jedem aufgefallen, der mich, wie du, schon eine längere Zeit nicht mehr gesehen hat. Das sollte was heißen. Bedeutet für mich, dass du mich nicht einmal richtig registrierst. Und warum sollte ich eigentlich auf jemanden hören, der das nicht mitbekommt, immer nur das negative sieht und mich auch versucht, gegen meine Familie aufzuwiegeln?" Das hat sie ja auch schon probiert. Mich gegen meinen Vater aufzubringen.

Wie ein Fisch öffnet und schließt sie ihren Mund wieder, ehe sie zu etwas ansetzen will. Doch ich hebe meine Hand. "Und wenn du versuchst, mir jetzt mit diesem 'Ich bin älter! Respektiere mich und ich weiß mehr!'-Mist zu kommen, kannst du dir das gleich abschminken. Ich war bis jetzt immer nett. Höflich. Zuvorkommend. Habe versucht dir das Gefühl zu geben, dass du die Oberhand hast! Aber..." Lächelnd stehe ich auf. "Ich bin auch erwachsen, Tante. Und nur weil du älter bist, hast du nicht automatisch meinen Respekt. Ich würde dir so gerne einiges an den Kopf schmeißen. Wirklich! Aber ich bin höflich genug, mir diese Dinge nur zu denken." Die Frau mit den gelockten Haaren steht auf. "Florentina Kindred!", schnaubt sie wutentbrannt und ich sehe unbeeindruckt zu ihr. "Was. Willst du mir jetzt einen Vortrag über das Respektieren der älteren Generation geben? Ich bin ja so unhöflich? Verbannst du mich jetzt?" Kichernd halte ich mir eine Hand vor den Mund. "Nein. Letzteres würdest du nicht wagen. Immerhin ist 'dein' Haus rechtmäßig das von meinem Vater. Aber keine Sorge!" Verabschiedend hebe ich meine Hand und gehe zur Terrassentür. "Ich hätte das auch gesagt, ohne dass ich ein Druckmittel gehabt hätte."

Das Erbe wurde... relativ ungleichmäßig aufgeteilt. Dadurch, dass sich Tante Bettina nicht wirklich um unsere Großeltern gekümmert hat, welche nun schon verstorben sind, wurde sie auch nicht wirklich berücksichtigt. Nur mein Vater und meine andere Tante Ulrike haben sich um sie gekümmert. Das Heim bezahlt. Die Beerdigungskosten. Alles, was anfiel. Bettina hat sich um nichts gekümmert. Sie wollte nur das Geld vom Erbe einstreichen und das Haus behalten. Sie hat ihren Pflichtanteil bekommen. Das wars. Selbst wir Enkel wurden im Erbe namentlich erwähnt. Und sie hatten sechs Stück, die auch noch ein bisschen was bekommen haben! Dadurch vielleicht auch die Rivalität. Mit einem zufriedenen Lächeln geselle ich mich zu den anderen und meine gute Laune wird sofort bemerkt. Mein kleiner Bruder zieht nur eine Augenbraue hoch. Ich zucke mit einer Augenbraue und sehe dann zur Terrassentür, durch die Tante Bettina gerade rein kommt. Maurice, mein kleiner Bruder, sieht ebenfalls dort hin. Blickt dann wieder zu mir zurück und hält mir unterhalb der Tischlinie seine Faust hin. Ohne Aufsehen zu erregen, lege ich meine Faust an seine und wir klinken uns schnell wieder in die Gespräche des Tisches mit ein, um nicht aufzufallen. Er hasst sie genauso, wie eigentlich jeder andere. Wobei Tante Uli nicht wirklich das Wort 'hassen' her nimmt. Für sie ist ihre Schwester 'speziell' und 'schwer im Umgang'.

Point of no returnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt