Kapitel 15

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Als ich zum zweiten Mal in die Bibliothek trat, war der Anblick kein bisschen weniger Erfurcht einflössend. Mit großen Augen trat ich durch das Tor und betrachtete staunend die Massen an Büchern. "Bist du bereit, dich mit ihnen anzufreunden?", fragte eine Stimme nicht weit von mir. Erschrocken zuckte ich zusammen. Kastor saß an einem kleinen, altertümlichen Schreibtisch am Rande der Bibliothek und schrieb mit einer großen, goldenen Feder in irgendein Buch. "Ich denke schon.", antwortete ich langsam, nachdem ich meinen Schrecken überwunden hatte und trat mit großen Schritten auf ihn zu. "Gut. Dann such dir doch schon mal eins aus, das dir sympathisch erscheint, ok?", kam seine Antwort, ohne dass er von seinem Buch aufblickte. "Was meint ihr damit? Ein Buch, das mir sympathisch erscheint?" Seine Hand hielt inne und er blickte etwas skeptisch zu mir hinauf. "Das wirst du dann schon selbst bemerken." Mit diesen Worten wandte er sich wieder seinem Gekrackel, welches eine Mischung aus Sütterlin und Arabisch zu sein schien, zu. Warum zur Hölle muss ich hier eigentlich immer alles selbst herausfinden. Es würde doch alles viel schneller gehen, wenn sie mir sagen würden, was es mit all dem auf sich hat. Seufzend drehte ich mich um, steuerte wahllos auf ein Regal zu und strich im Vorbeigehen über die zahllosen Bücherrücken. Wie alt sie wohl waren? Und was alles in ihnen stand? Ich stoppte und zog ein Buch heraus. Auf dem stabilen, aber abgetragenen Einband stand in Großbuchstaben PROSA-EDDA. Da mir der Name nichts sagte, schlug ich es behutsam auf und blickte überascht auf etwa zweihundert handgeschriebene Seiten. Der Wahnsinn! Dann musste es ja noch vor der Erfindung des Buchdrucks entstanden sein, also spätenstens in der früheren Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Sanft fuhr ich über die uralten Seiten und wieder spürte ich dabei das Pulsieren unter meinen Fingerkuppen, das, je länger ich meine Finger darauf ließ, stärker wurde, bis ich schließlich das Gefühl hatte, dass mein ganzer Körper vibrierte. Ich schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, als eine Welle der Kraft und des Wissens meinen Körper durchdrang und mich beinahe ganz ausfüllte. "Na? Schon was gefunden?" Mit einem lauten Schrei ließ ich das Buch fallen und stolperte zurück. Wo kam denn der auf einmal her?! Der Mönch lächelte, hob das Buch vom Boden auf und betrachtete es. "Ahhh... Die Prosa-Edda von Snorri Sturluson aus dem Jahre 1225. Vorzügliche Wahl." Ich verstand nur Bahnhof. Und das gab ich ihm auch mit einem dem entsprechend skeptischen Blick zu verstehen. Und Kastor gab mir daraufhin zu verstehen, dass ihn das nicht interessierte, indem er mir das Buch wieder in die Hand drückte und unbeirrt fort fuhr zu erzählen: "Jetzt schau es dir mal genau an und sag mir, was du siehst." Er drehte sich von mir weg und schien auf eine Antwort zu warten. Ich tat, wie mir gehießen und fuhr sacht mit den Fingerkuppen über den Einband. "Ich sehe ein Buch. Ein sehr altes Buch." Ich stockte. Was soll man da auch groß sagen. Es ist halt ein Buch. Doch Kastor schien mehr zu wissen wollen. "Ja und weiter? Du musst es dir schon genauer ansehen. Versuch herauszufinden, was es so besonders macht." Aber ich blickte nur verständnislos von dem kahlköpfigen Mönch zu dem Buch und wieder zurück. "Ähm ... Naja ... Es hat einen stabilen Einband, der aber schon ziemlich abgegriffen ist. Das heißt, es haben viele gelesen, es hat viele interessiert oder viele berührt. Ähm ... Außerdem ist es handgeschrieben. Keine lateinischen Buchstaben. Kyrillische auch nicht. Sieht aber aus wie was nördliches. Norwegen vielleicht. Oder Schweden." Kastor nickte mit jedem Wort, das ich sagte, mit. "Für den Anfang ganz gut. Und jetzt lass es dir zeigen." Wieder bekam er nur einen verwirrten Blick und eine bis zum Anschlag hochgezogene Augenbraue. Er seufzte. "Frag das Buch, woher es kommt." Mein verwirrter Blick blieb, doch ich tat, was er von mir verlangte. "Buch, woher kommst du?" Also, wenn ich ganz ehrlich bin, ich hatte nicht erwartet, dass da wirklich etwas passiert. Deshalb war ich auch mehr als nur überrascht, als ich plötzlich nicht mehr in der Bibliothek stand, sondern in einer kleinen Holzhütte. Ich blinzelte, doch das Bild blieb. Vorsichtig blickte ich mich um und mein Blick wanderte von einem knisternden Kamin zu einem überquellenden Bücherregal, bis er schließlich an einem älteren Mann an einem Schreibtisch hängen blieb. Wie zur Salzsäule erstarrt blieb ich stehen und wagte nicht, mich zu bewegen. Doch der Mann vor mir hatte anscheinend nicht mit bekommen, dass ich nur wenige Meter hinter ihm stand. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, irgendwas mit einer goldenen Feder in ein Buch zu kritzeln. Widerwillig schüttelte ich den Kopf und vertrieb somit das Dejvugefühl aus ebendiesem. Nein. Das kann unmöglich Kastor sein! Schließlich hat der Typ da vor mir noch volles Haar. Behutsam bewegte ich mich um ihn herum, um sein Gesicht sehen zu können. In diesem Moment hielt er kurz inne und betrachtete sein Werk mit einem stolzen Funkeln in den Augen. Er schob den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, mit einem lauten Knarzen beiseite, hielt das Buch in die Höhe und rief: "Ich habe es endlich fertig. Habt ihr gehört?! Ich habe es fertig! Seid ihr nun zufrieden?!" Kaum hatte er das letzte Wort über die Lippen gebracht, schoss ein blauer Strahl durch das Dach der kleinen Hütte und umschloss das Buch. Sein Autor riss erstaunt die Augen auf und stauchelte zurück. Ich dagegen wurde mit dem Buch in den Strahl und aus der Hütte gesogen. Meine Gliedmaßen versteifen sich und es fühlte sich an, als dringend das blaue Licht in mich ein und sauge mir alle Lebenskraft aus. Mit einmal wurde mein Blick unklar und mein Atem stockte. Ich wusste genau, wenn das nicht bald aufhörte, wäre ich geliefert. Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, verschwand das blaue Licht und ich landete unsanft auf meinen vier Buchstaben. Ich öffnete die Augen und sah wenige Zentimeter vor meinem Gesicht zwei paar Stiefel vor, in denen die Füße eines alten, weißhaarigen Mannes steckten. Er war prächtig gekleidet. Viele veschieden farbige Stoffe bedeckten seinen Leib, sowie eine Augenklappe sein rechtes Auge. In seinen Händen hielt er das Buch. Er hatte es aufgeschlagen und blätterte nun mit einem ernste Blickdarin herum. Dann nickte er und gab es einem andern, jungeren Mann, der im Gegensatz zu dem Alten in eine goldene Rüstung gekleidet war. "Es ist gut so.", begann der Greis zu reden. "Gib es den Menschen, auf dass sie uns niemals ganz aus ihrem Leben verbannen werden." Mit diesen Worten verließ er den nur schwach beleuchteten Raum. Der andere hob die Hand, in der er das Buch hielt und wieder wurde sowohl das Manuskript als auch ich von dem blauen Strahl erfasst. Doch diesmal entspannte ich mich und atmete einmal tief ein, bis das Licht wieder verschwunden war.

Ich landete in einer Art Kirche. Das Buch lag in der Mitte des großen, hellen Raumes. Ich stand auf und wollte es hoch nehmen, doch meine Hände fuhren mit einem leichten Kribbeln einfach hindurch. In dem Moment brach eine Flut von Bildern über mich herein. Als Erstes eine junge Frau mit roten Haaren, dann ein großer, stämmiger Mann Mitte dreißig und so weiter und so fort. Doch plötzlich wurde es dunkel. Eine alte, buckelige Frau hatte das Buch und damit auch mich in eine Truhe gelegt und diese fest verschlossen. Eine halbe Minute verging, bis sie wieder geöffnet wurde. Doch nicht von der alten Frau, sondern von einer Person, die verdammt große Ähnlichkeiten mit Elena hatte. Mit ihren langen, schlanken Fingern zog sie das Buch behände aus der Truhe, legte ihre Fingerspitzen auf den Einband und schloss ihre Augen. Als sie sie wenig später wieder öffnete, hatte sich ein liebliches Lächeln auf ihrem Gesicht ausgebreitet und ließ es vor Begeisterung aufleuchten. Die junge Frau stand auf, das Bild wechselte und vor meinem inneren Auge erschienen meine neu gefundenen Freunde. Sie schienen unglaublich glücklich zu sein. Alle lachten und Kastor hielt das Buch in seiner Hand und strich beinahe liebevoll darüber. Wieder wechselte das Bild und ich sah mich, wie ich durch sie Gänge schlenderte und mit den Fingern über die Bücherrücken fuhr, dann stoppte und ein Manuskript heraus zog. In dem Moment, in dem ich es berührte, verschwamm das Bild, ich blinzelte und mit einem Mal stand ich wieder in der Bibliothek mit dem Buch in der Hand, während mich der Mönch begeistert anblickte. "Wow", hauchte ich nur, denn mehr wollte mir in dem Moment einfach nicht einfallen. Kastor aber lächelte zufrieden, drehte sich um und stiefelte glücklich davon. Auch wenn ich nicht verstand, was in dem Kopf des kleinen Mannes vor ging, war er mir irgendwie sympathisch.

Begabte - Götter in AusbildungWhere stories live. Discover now