Kapitel 16

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Ich schaute mich noch einmal mit einem beinahe liebevollem Blick in dem rießigen Bibliotheksgebäude um, bevor ich mich mit einem lauten Seufzer durch die Regale schlängelte und durch die schwere Eichentür in den Flur trat. Dort blieb ich wie angewurzelt stehen und zog mein Handy aus der Hosentasche. Kurz nach eins. Wie lange war ich denn in der  Bibliothek?!  Verwundert steckte ich das Telefon zurück in die Tasche und machte mich auf die Suche nach einem angemessenen Mittagessen. Als ich endlich den Weg durch die scheinbar unendlichen Gänge bis hin zur Küche gefunden hatte, wurde ich von Elena mit einem wie immer freundlichen Lächeln empfangen. Sie hatte die Ärmel bis über die Ellenbögen hoch gekrempelt und wusch gerade einige Teller auf. "Ah, Fleur, schön dich zu sehen. Wir haben schon ohne dich gegessen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus. Natürlich haben wir dir etwas üprig gelassen." Die nassen Hände von sich gestreckt, hüpfte sie durch Küche zum Herd und nahm den Deckel von dem gigantischen Topf, der dort platziert war. "Hol doch mal einen sauberen Teller aus dem Schrank.", bat sie mich, während sie mit einer riesigen Kelle in dem Topf rum rührte. Ich tat, was sie von mir wollte und trat mit dem seltsam geformten Teller neben die junge Frau. Diese schöpfte eine Kelle voll Erbsensuppe und entleerte sie über meinem Teller. Und das wars. Er war voll. Von EINER Kelle. Ich musste grinsen, sagte aber nichts weiter und ließ mich dann lediglich auf der spröden Holzbank in der Mitte des Raumes nieder.

Nachdem ich mit dem Essen fertig war, hatte ich verständlicher Weise gehofft, dass ich mich für ein paar Minuten mal ausruhen durfte, doch dem war nicht so. Kaum hatte ich die Küche wieder verlassen, kam mir Dagmar mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht entgegen. "Na Fleur. Bist du noch fit? Gut, dann komm doch mal mit. Ich würde dir gerne unsere Haustiere zeigen."

"Haustiere?", fragte ich mit skeptisch hochgezogener Augenbraue. Wenn es weiter nichts wäre, könnte ich sicher ohne Bedenken mitgehen, aber wir wissen doch alle, dass da noch irgendwo ein Hacken ist. Allerdings blieb mir keine Zeit, das anzumerken, denn kaum hatte ich meinen Gedanken zu Ende gedacht, war Dagmar bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden. Ich legte den Kopf in den Nacken und stöhnte genervt auf. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Meinung hier niemanden interessiert! Mit einem lauten Seufzer setzte ich mich in Bewegung und folgte dem kleinen Kobold durch unzähligen Gänge und gefühlte hundert Treppen hoch und wieder runter, bis er dann endlich vor einer großen Tür stehen blieb. Als ich diese Tür sah, schauderte ich. Nicht das große Türen hier unnormal wären, ganz sicher nicht, aber diese hier war anders. Man brauchte nur einen einzigen Blick auf sie zu werfen, um ein mulmiges Gefühl im Bauch zu kriegen. Denn sie war, im Gegensatz zu den anderen Türen nicht aus schwerem Eichenholz, sondern aus silber glänzendem Eisen. Also musste sie um einiges stabiler sein. Und dennoch hatte sie lauter Beulen, die sich sehr aufdringlich in mein Blickfeld drängten. Aber das größte Problem war, dass die Beulen nicht nach innen, sondern nach außen gingen. So, als wäre etwas hinter dieser Tür, dass nur zu gern nach draußen wollte. "Was ist da?", fragte ich mit einem unüberhörbaren Zittern in der Stimme. Daraufhin drehte sich Dagmar zu mir um, blickte mir tief und eindringlich in die Augen und sagte dann nur: "Bleib einfach nah genug an der Wand. Dann kann dir nichts passieren." Mit diesen Worten schloss er das Schloss der schweren Eisentür auf und öffnete sie so weit, dass man in den schwach beleuchteten Raum dahinter sehen konnte. Was ich dort erblickte, ließ mich erstarren. Ein rießiges Fellknäuel lag zusammen gerollt in der hintersten Ecke, doch als es uns erblickte, hob es den gigantischen Kopf und starrte uns mit seinen tiefschwarzen Augen an. Ich sah einen wütenden Funken in seinem Blick aufblitzen, als hätten wir ihn bei irgendwas gestörrt. Dann fletschte er zornig die Zähne sprang auf die abgemagerten Beine und rannte auf uns zu, als wollte er uns in Stücke reißen. Zu unserem Glück wurde er wenigen Meter, bevor er uns erreicht hatte, von der schweren Eisenkette zurück gerissen, die er um den Hals trug. Als das Wesen auf dem Boden aufkam, heulte es vor Schmerz auf. Dieser Laut ging mir durch Mark und Bein und ließ mich nur noch mehr zurück schrecken. Ungeschickt rappelte sich das Wesen wieder auf und starrte uns erneut an. Doch diesmal verharrte sein Blick bei mir. Seine dunklen Augen bohrten sich in die meinen und doch fiel auf einmal alle Anspannung von mir ab. All der Trubel und die Aufregung der letzten Tage, alle Probleme und Ängste waren auf einmal wie weggeblasen. Jetzt gab es nur diesen verdammt intensiven schwarzen Augen. Fasziniert starrte ich sie an und konnte meinen Blick einfach nicht mehr abwenden. Und dann sah ich sie. Die Angst. Die Angst vor uns. Und die Qualen, die er schon hatte erleiden müssen. Den markerschütternden Hunger und die alles verzehrende Müdigkeit. Ich sah vor meinem inneren Auge das gesamte Leben des Tieres vorbei ziehen. Und es war schmerzhaft. Sehr schmerzhaft. Von Wilderern gefangen, gefoltert und bis auf die Knochen abgemagert. Ich spürte all das, als hätte ich es selbst erlebt. Erlitt die selben Schmerzen, erhielt die selbe Missachtung. Mir wurde schlecht. "Hey, Fleur, ist alles in Ordnung?"; befreite mich Dagmar aus meiner Starre und das schreckliche Gefühl verflog. Doch die Bilder die ich gesehen hatte blieben. Ich atmete kurz tief durch, dann wandte ich mich wieder an das Wesen. Tränen kullerten über meine Wangen. "Es tut mir so leid.", hauchte ich fast stimmlos, doch es schien mich verstanden zu haben, denn wieder hob es den riesigen Kopf und jaulte mit einer Inbrunst und einem Schmerz in der Stimme, wie man ihn nie wieder vergessen würde. Ich konnte einfach nicht anders. Ohne an meine eigene Sicherheit zu denken, stürmte ich auf das Wesen zu und schlang meine Arme um es. Hinter mir hörte ich die erschrockenen Aufschreie des Kobolds, doch ich ignorierte sie. Keine Sekunde länger konnte ich es ertragen, dass das Tier Schmerzen litt und Angst hatte. Als ich es berührte, spürte ich die Wärme, die von seinem Körper ausging, sog sie in mich auf und gab ihm meine eigene zurück. Ein wohliges Brummen drang aus seinem Bauch und er legte den schweren Kopf sanft auf meine Schulter, so, als würde er die Umarmung erwidern. Für einige Sekunden herrschte absolute Stille im Raum, dann löste sich das Wesen aus meiner Umarmung, starrte mich einige Sekunden lang einfach nur mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen an und dann machte es eine Art Verbeugung vor mir. Kaum hatte es den Blick von mir abgewandt, wurde ich aus dem Raum gezerrt und die Tür wurde zugeschlagen und verriegelt. "Was war denn das gerade?! Bist du jetzt vollkommen durchgedreht?! Du kannst doch nicht einfach zu einem der gefährlichsten Tiere der mystischen Welt rein marschieren und es umarmen, als wäre es ein Kuscheltier! Du hast verdammt viel Glück, dass du überhaupt noch lebst!" Wütend zerrte mich der Kobold durch die Gänge. "Das wird mit Sicherheit ein Nachspiel haben!" Jetzt selber wütend, riss ich mich von ihm los und ging ein paar Schritte zurück. "Das soll für mich ein Nachspiel haben?!", fauchte ich zurück. "Ihr quält ihn doch so! Ihr macht ihm Angst, lasst ihn Hungern und tut ihm weh. Euch sollte man bestrafen." In meinem Redewahn vertieft, bemerkte ich nicht, dass Lodur hinter mich getreten war. "Was ist denn hier los?", fragte er ein wenig verwundert. Dagmar schnaubte abfällig. "Das kleine Naivchen hier war der Meinung, es könnte Fenrir einfach umarmen." Fenrir heißt er also. Lodur runzelte fragend die Stirn. "Und er hat dich nicht in Stücke gerissen?" Ich fuchtelte demonstrativ mit beiden Armen durch die Luft. "Offensichtlich nicht! Sonst würde ich ja nicht hier stehen, oder? Hör mal, er hatte einfach nur Angst!", brachte ich verzweifelt heraus, doch Lodur starrte mich für einige Sekunden einfach nur an. Dann lächelte er leicht und meinte: "Gut. Ein gutes Zeichen." Dann drehte er sich um und ging davon. Wie er es immer tat. 

Begabte - Götter in AusbildungWhere stories live. Discover now