Kapitel 3

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Als wir bei Katie zu Hause ankamen, schmiss ich erst einmal meinen gesamtes Gepäck in die hinterste Ecke des Gästezimmers und stürmte sofort wieder in die kleine Küche, um mich dort mit Katies selbst gemachten Ratatouille vollzustopfen. Ich hatte den ganzen Tag, bis auf eine Tüte Nüsse im Flugzeug, noch nichts gegessen und daher jetzt einen Bärenhunger. Belustigt sah mir meine Tante beim Herunteschlingen des Reisgerichtes zu. "Dir scheint mein Essen ja zu schmecken", merkte sie schließlich nach einer Weile an. "Dann wird es dich sicher freuen, dass ich vorhabe, heute Abend Fish and Chips zu machen. Wenn du möchtest, kannst du mir ja dabei helfen." Fish and Chips. Also was die Kochkünste betraf, konnte man wirklich nichts gegen die Blondine einwenden. Ich nickte nur. Mit vollem Mund redet es sich schließlich schlecht. Katie fing an zu lachen. "Gut...Gut." Den Nachmittag verbrachten wir dann damit die nötigen Lebensmittel im Sainsbury's zu besorgen. Dabei hätte ich mir niemals träumen lassen, dass ein Supermarkt so riesig sein konnte. Aber nach einer gefühlten Ewigkeit hatten wir dann doch alles zusammen und machten uns schließlich wieder auf den Weg zu Katies Wohnung in einem der etwas wohlhabenderen Viertel in Brixton.

Am nächsten Morgen wurde ich halb neun von Katie erst aus dem Bett, dann ins Bad und schließlich in die Küche gescheucht, wo sie bereits den Frühstückstisch gedeckt und das Radio angeschaltet hatte. Als wir gegessen hatten, waren endlich die berühmtesten Sehenswürdigkeiten von London dran. Als Erstes gingen wir zum London Eye, bewunderten die ungewöhnlich gute Aussicht auf den Big Ben auf der anderen Seite der Themse und auf den Buckingham Palace. Nach dem Mittagessen waren dann die Wachsfiguren von Madame Tussauds an der Reihe. Als wir schließlich wieder auf die Londoner Straßen traten, war die Sonne bereits am Horizont verschwunden und hinterließ eine ergreifende Dunkelheit, die nur alle paar Meter von dem Licht einer Straßenlaterne unterbrochen wurde. Fröhlich liefen wir durch die Gassen, schoben uns durch die Menschenmassen und witzelten über die Erlebnisse der heutigen Tages. Plötzlich blieb Katie stehen. Darauf war ich nicht gefasst gewesen und lief erst einmal weiter, bis ich schließlich merkte, dass meine Tante mir nicht mehr folgte. Verdutzt drehte ich mich zu ihr um und wollte sie gerade fragen, was los war, als sie mir mit einer nervösen Geste bedeutete, leise zu sein. Ich runzelte verwirrt die Stirn, hielt aber die Klappe. Vorsichtig kam Katie auf mich zu und flüsterte mir so leise ins Ohr, dass ich es kaum verstand: "Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Stadt und glaub mir, noch nie habe ich eine so leere Straße gesehen." Und sie hatte recht. Kein einziger Mensch, außer uns, lief noch auf dieser Straße. Kein einziges Tier war zu hören. Nur die Themse rauschte links an uns vorbei. Ein unangenehmes Kribbeln kroch meinen Rücken hinunter und ließ mich mit dem Wissen zurück, dass wir hier so schnell wie möglich verschwinden mussten, wenn wir nicht wie im Film von irgendwelchen irren Serienkillern mit Kettensägen in Scheiben geschnitten werden wollten. Ich musste unweigerlich an den Obdachlosen vom Flughafen denken. Von Panik ergriffen, schnappte ich mir die Blondine und zog sie im Eiltempo die Straße entlang. Doch wir kamen nicht sehr weit. Kaum waren wir los gelaufen, trat eine obszöne Gestalt aus dem Dunkel und versperrte uns den Weg. Ich versuchte es erst gar nicht in die andere Richtung. Wenn der wegen uns hier war, war er sicher nicht allein gekommen. Mit großen Schritten kam die Gestalt auf uns zu, blieb dann aber knapp zwei Meter von uns entfernt stehen. Sein Körper war von einem langen, schwarzen Mantel bedeckt und verhüllte die dürren, seltsam verdrehten Gliedmaßen. Die obere Hälfte seines Kopfes wurde von einem schwarzen Zylinderhut verdeckt, doch was man von der Unteren sah, war weit mehr als nur beunruhigend. Seine Haut war leichenblass, was dazu führte, dass die schmalen, blutroten Lippen einen unnatürlich starken Kontrast mit ihr bildeten. Doch am unheimlichsten waren die schneeweißen, spitzen Zähne, die seinem Mund schmückten und im Dunkeln beinahe leuchteten, wie eine Lichterkette am Weihnachtsbaum. Mit einer Hand schob er seinen Hut ein wenig zurück, sodass er uns mit seinen durch und durch schwarzen Augen ziemlich desinteressiert betrachten konnte. Als er schließlich mit dem, was er sah, einigermaßen zufrieden zu sein schien, winkte er in einer übertrieben melodramatischen Geste zwei etwas weniger unheimliche Gestalten zu sich. Auf einen kurzen Befehl seinerseits in einer Sprache, die ich nicht verstand, zückte der Kleinere von beiden ein mindestens zwanzig Zentimeter langes Messer und schleuderte es ohne auch nur mit der Wimper zu zucken in meine Richtung. Katie reagierte schneller als ich. Sie zog mich mit einer geschickten Bewegung aus der Fluglinie des Messers, sodass es, statt sich in meine Schulter zu bohren, nur meinen Oberarm streifte. Allerdings tat auch das höllisch weh. Verdutzt berührte ich den blutenden Schnitt und blickte dann wütend zu dem Typen, der das Messer nach mir geworfen hatte. Doch der hatte bereits zwei weitere gezückt und warf eines davon noch einmal nach mir. Nur diesmal wich ich mit einer simplen Bewegung meines Oberkörpers aus. Schützend zog diesmal ich Katie hinter meinen Rücken und stürmte dem Mut der Verzweiflung  auf den Messerwerfer zu, in der Hoffnung ihn irgendwie umzureißen und entwaffnen zu können. Ganz zu dem Thema Angriff ist die beste Verteidigung. Der erste Teil meines Planes gelang sogar überraschender Weise. Mit einem überraschten Schrei fiel der Messerwerfer zu Boden. Allerdings schien das seinem hageren Kumpel nicht allzu gut zu gefallen. Ruckartig zerrte er mich von seinem Kollegen herunter, kugelte mir damit fast beide Arme aus und hielt mich dann mit einem beinahe angewiderten Gesichtsausdruck so weit von sich weg, wie nur möglich. Ich überwand den Schmerz innerhalb von wenigen Sekunden und versuchte anschließend dem glatzköpfigen Fiesling mit meinen für ihn unangenehm langen Fingernägeln, die Augen auszukratzen. Wütend schleuderte er mich mit einer unmenschlichen Kraft gegen die nächstbeste Straßenlaterne.

Keuchend schnappte ich nach Luft und versuchte den stechenden Schmerz, der langsam durch meine Hüfte in meinen Rücken kroch, herunter zu schlucken. Als ich die Augen öffnete, tanzten dutzende kleine Sterne vor mir durch die Luft und bildeten sich höchstwahrscheinlich ein, sie wären etwas besseres. Ha. Na das werden wir noch sehen, dachte ich und rappelte mich ungeschickt auf. Doch das war leichter gesagt, als getan. Anscheinend hatte mein Gleichgewichtssinn etwas abbekommen, denn egal was ich machte, die Themse floss trotzdem nach oben. Dennoch blieb mein Blick plötzlich an etwas hängen, dass wohl gerade Kopfstand machte. Neben dem Wesen lag ein weiteres und schlug und trat auf das, was Kopfstand machte, ein. Verwundert runzelte ich die Stirn. Das passt irgendwie nicht zusammen, dachte ich und legte den Kopf etwas schräg. In dem Moment wurde mein Blick wieder klar und ich erstarrte, als mir klar wurde, wer da eben nicht Kopfstand machte und ganz eindeutig schon einige Tritte und Schläge abbekommen haben musste. Das erkannte ich daran, dass Katie sich nicht mehr groß wehrte oder besser gesagt, gar nicht mehr. Verzweifelt blickte ich mich nach irgendwas um, dass ich als Waffe gebrauchen könnte. Da entdeckte ich das Messer, dass mich vorhin gestreift hatte und deshalb selber aus der Flugbahn geraten war. Es lag nur knapp zwei Meter von mir entfernt und als ich hinter mir auch noch Schritte hörte, die vermutlich von dem Knochenbrecher stammten, hechtete ich dem Messer entgegen, drehte mich auf den Rücken und schleuderte den Dolch gleichzeitig in die Richtung, aus der ich gekommen war.

Ich traf ihn genau zwischen den Augen. Fassungslos starrte ich ihn an und merkte erst gar nicht, dass mir der Mund offen stand. Hm. Das war ja einfach, dachte ich, während ich ihm mit angeekelter Grimasse das blutige Messer aus dem Kopf zog. Dabei gab es einen Laut, der so markerschütternd war, das ich ihn in meinem Leben nie wieder vergessen werde und ich Mühe hatte, mein Essen im Magen zu behalten. Ich überwand meinen Ekel und rannte zu meiner Tante, die immer noch von den Tritten des Messerwerfers massakriert wurde. Naja. Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem ich ihm meine Klinge in den unteren Rücken stieß. Nachdem er endgültig den Löffel abgegeben hatte, hockte ich mich kurz hin, um Katies Puls zu fühlen, stand aber gleich darauf erleichtert wieder auf, als ich ein langsames, aber regelmäßiges Pok-Pok an meinen Fingerspitzen fühlte. Aufmerksam blickte ich mich um, um nach meinem letzten Gegner Ausschau zu halten. Es gab nur ein kleines Problem.

Er war weg.

Einfach vom Erdboden verschwunden. Dennoch studierte ich meine Umgebung noch etwa eine halbe Minute so gut ich konnte, bevor ich schließlich mein Handy aus meiner Hosentasche angelte und Krankenhaus und Polizeistation über den Vorfall informierte. Wenige Minuten später wimmelte es nur so von wichtig tuenden Polizisten und übereifrigen Sanitätern. Katie wurde innerhalb von wenigen Minuten in einen Krankenwagen verfrachtet und ins nächste Krankenhaus gebracht. Mir bot man das Gleiche an, doch ich lehnte dankend ab und gab mich "lieber" den Befragungen des ranghöchsten Polizisten hin. Gefühlte sechs Stunden später konnte ich dann endlich gehen. Man rief mir noch ein Taxi, quasi als Entschädigung.

Mit glasigen Blick starrte ich aus dem Fenster des schwarzen Taxis. Wieder betrachtete ich die Menschen, die draußen vorbei liefen. Wieder überlegte ich, was wohl ihre Geschichte war. Doch diesmal war auch etwas anders. In diesem Moment machte ich mir zum Ersten mal wirklich Gedanken über meine eigene Geschichte. In dieser Nacht hatte sich so einiges verändert. Ich hatte zwei Menschen oder was das auch immer waren umgebracht. Ihr Blut klebte an meinen Händen. Doch es war schließlich Notwehr, nicht wahr? Ich hatte keine andere Wahl gehabt. Selbst wenn, ich bereute nicht, was ich getan hatte. Und das war wahrscheinlich das, was mir im Moment am meisten Angst machte. Ich bereute nicht, gerade eben zwei Leben ausgelöscht zu haben. Meine Weltsicht hatte sich verändert. Ich hatte mich verändert. Plötzlich musste ich schmunzeln. Der Obdachlose hatte recht gehabt. Fleur Blanche existierte nicht mehr. Diese wenigen Minuten, die ich auf dieser Straße verbracht hatte, hatten mich verändert. Mehr als mir lieb war.

Begabte - Götter in AusbildungWhere stories live. Discover now