Kapitel 12

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Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an und machte sich bereit, wenn nötig, sofort die Flucht zu ergreifen. Doch zu spät. Elena legte ihren Arm um meine Schultern und schob mich mit einer Kraft, die ich ihr nie zugetraut hätte, in die kleine Küche. In diesem Moment verstummte jedes Gespräch und die Augen aller Anwesenden wanderten zu mir. Ich fluchte innerlich. Und was jetzt?, dachte ich und blickte mich verzweifelt nach allen Seiten um. Doch zu meinem Bedauern hatte die mittelalterlich eingerichtete Küche nur eine Tür. Und diese wurde von Elena versperrt. "Schön, dass du schon wach bist. Wir haben gerade über dich geredet", unterbrach der Junge aus dem Café das unangenehme Schweigen und stand von seinem Stuhl auf. Statt des schwarzen Mantels, den er sonst immer trug, hatte er sich jetzt in einen weißen, weiten Wams und eine dazu passende Wildlederhose samt dazu passender Stiefel gekleidet. Das ließ ihn nicht ganz so blass aussehen und so wirkte er beinahe schon attraktiv. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und kam mit großen Schritten auf mich zu. Ich schluckte. "Willst du dich nicht zu uns setzten und etwas essen?", begann er wieder und zeigte mit einer schwungvollen Geste zu dem gedeckten Frühstückstisch. "Also, wenn ich ehrlich bin. Nein, will ich nicht.", erwiderte ich widerstrebend. Der Junge seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. " Weißt du, du musst wirklich keine Angst vor uns haben. Wir haben nicht vor, dich umzubringen oder dir sonst irgendwas anzutun.", er stockte einen Moment, bevor so fort fuhr, dass nur ich es verstehen konnte. "Bleib  bitte wenigstens für ein oder zwei Tage, okay? Hör dir einfach mal an, was wir dir zu sagen haben, ohne immer gleich wieder wegzulaufen." Ich hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. Sie waren von einem Blau, wie ich es zuvor nur einmal gesehen hatte. Und das war bei meinem letzten Familienurlaub in Südfrankreich gewesen. Beim letzten gemeinsamen Urlaub mit meiner Mutter. Das Meer dort hatte ich geliebt. Dieses unglaublich blaue und intensive Meer. Wir hatten uns dort ziemlich verlassene Strände gesucht. Damit wir als Familie eine ungestörte Zeit mit einander verbringen konnten. Und einmal hatten wir eine Art Klippe gefunden. Dort waren wir bis zu unserer Abreise jeden Tag hin gefahren. Meine Mum und ich hatten uns immer ganz vorn an den Rand gesetzt und auf das Meer hinaus gestarrt. Über philosophisches Zeug geredet. Aber es war dennoch schön gewesen. Betroffen senkte ich meinen Kopf und schloss die Augen. "Gut", gab ich schießlich nach. "Ich hör mir an, was ihr von mir wollt. Aber erwartet nicht, dass ich darauf eingehe." Der Junge lächelte sacht und trat dann einen Schritt zurück. "Dagmar hatte dir im Zug von der einen Begabten erzählt, nicht wahr?" Ich nickte. "Nun ja ... Im Moment deuten alle Zeichen darauf hin, dass du wirklich diese eine Begabte bist, von der in der Weissagung die Rede ist. Deine Mutter ... war ebenfalls eine Begabte. Eine in der elften Generation. Das heißt, du bist die Zwölfte. Die vollkommene Begabte. Deshalb ist deine Mutter auch geflohen. Sie hat gewusst, dass sie sie gefunden hatten. Sie wollte dich nicht noch mehr in Gefahr bringen." Ich blickte ihn fassungslos an. Das würde allerdings Einiges erklären. "Wen genau meinst du mit 'sie'?", fragte ich, als er nicht weiter sprach. Der Junge seufzte, als hätte er gehofft, dass ich das nicht fragen würde. An seiner Stelle antwortete Dagmar. "Weißt du Fleur, es gibt nicht nur gute Götter. Es existieren auch genug, die nur nach Macht hungern. Und dabei keinerlei Rücksicht auf andere nehmen. Das kann man nicht ändern." Der kleine Kobold zuckte hilflos mit den Schultern. Ah ok. Böse Götter also. "Eine Frage hab ich noch. Woran seht ihr, dass ich diese eine Begabte bin? Muss man da irgendwelche Kriterien erfüllen?" Wenn sie mir darauf eine nachvollziehbare Antwort gaben, so schwor ich mir, würde ich bleiben. Diesmal räusperte sich Elena. "Die Antwort auf deine Frage solltest du eigentlich selber wissen. Glaubst du, dass jemand normales gegen die Auftragskiller hätte bestehen können? Oder einfach so der Kammer fliehen können? Spürst du sie nicht? Die Kraft. Gib es zu. Seit dem du hier bist, fühlst du dich erst wirklich lebendig. Und genau dieses Gefühl wird noch stärker werden, wenn du dich auf dieses kleine Abenteuer hier einlässt." Während sie geredet hatte, war sie mit überschwänglichen Gesten und einer überwältigenden Begeisterung in der Stimme zu mir herüber gegangen und hatte meinen Kopf so weit angehoben, dass ich ihr direkt in die Augen schaute. Diese waren vor Aufregung geweitet und strahlten mich hoffnungsvoll an. "Ich bin dabei", erwiderte ich mit einem Grinsen und der ganze Raum atmete erleichtert auf. In diesem Moment stieg Dagmar auf den Tisch streckt die Hand mit der Tasse nach oben und rief: "Das muss gefeiert werden. Holt den Wein raus. Wir wollen gemeinsam anstoßen." Die Blicke aller Anwesenden wanderten zu ihm und für einen Moment herrschte eisiges Schweigen, dann brach Elena in schallendes Gelächter aus. "Aber mein Freund! Es ist doch erst neun Uhr morgens. Du kannst doch jetzt noch nichts trinken" Der Kobold starrte sie einige Sekunden unverwandt an, dann antwortete er gekrängt "Dann eben nicht!" und stieg wieder vom Tisch hinunter. Ich grinste. Eigentlich eine ganz lustige Bande. Wer weiß, vielleicht wird das ja noch ganz lustig. Die Angst, die ich am Anfang vor ihnen gehabt hatte, war auf einmal wie weggeblasen. "Ach und bevor ich es vergesse. Die Zwei hier kennst du noch nicht.", der Junge zeigte auf einen älteren Mann, mit seiner Kutte und der kranzförmigen Frisur wohl jedermanns Vorstellung eines Mönches widergespiegelt hätte und eine Frau Mitte dreißig. Letztere war klein, sehr klein und etwas stämmig. Die Kleidung war die eines Kriegers mit Lederwams und eisenbeschlagenen Stiefeln. Ihre strohblonden Haare hatte sie sich zu zwei dicken Zöpfen gebunden und ihr Schwert in dazu gehöriger Scheide hing ihr um die Hüfte. "Das sind Kastor und Edna. Kastor ist für unser Bibliothek zuständig und Edna kümmert sich um die Instandhaltung unserer Waffen und des Trainingsplatzes." Ich nickte und wandte mich zu dem Jungen. "Und wie heißt du?" Er lachte kurz und blickte mich mit seinen meerblauen Augen an. "Nenn mich wie du willst. Aber von meinen Freunden werde ich Lodur genannt." Ich musste schmunzeln. Interessanter Name. "Steht das Angebot mit dem Frühstück eigentlich noch? Ich kriege so langsam nähmlich echt Hunger."

Begabte - Götter in AusbildungWhere stories live. Discover now