Kapitel 4

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Am nächsten Morgen versuchte mir der Wecker ziemlich aufdringlich klar zu machen, dass ich verschlafen hatte. Mit der großen 11:48- Aufschrift hatte er sich, frech wie er war, direkt vor meinem Gesicht platziert und lachte sich nun genüsslich ins Fäustchen, als ich mich stöhnend von dem unbequemen Sofa im Wohnzimmer rollte. Ich brauchte einen Moment, um zu bergeifen, wo ich mich befand und was letzte Nacht passiert war. Als es mir schließlich wieder einfiel, seufzte ich und schlürfte mit hängendem Kopf ins Badezimmer. Damit war mein Urlaub gelaufen. Vor allem, weil ich meinen Vater noch über das Geschehene aufklären musste. Im Badezimmer angekommen, drehte ich den Wasserhahn voll auf, ließ die kleine, hellblaue Badewanne bis zum Rand voll laufen und schüttete noch einige gut riechende Seifen hinein. Nachdem ich das heiße Wasser eine gute Stunde in vollen Zügen genossen hatte, stieg ich vorsichtig aus der Wanne und schnappte mir ein Handtuch aus dem Schrank. Erst als ich mich abtrocknen wollte, merkte ich, dass die vergangene Nacht eigentlich gar nicht so spurlos an mir vorüber gestrichen war, wie ich gehofft hatte. Bis auf den schmalen Schnitt an meinem Oberarm entdeckte ich außerdem noch einen riesigen Bluterguss, der sich wie eine grün-blaue Schlange über meinen Rücken zog und schließlich an meiner linken Schulter endete. Besorgt betrachtete ich die Verletzung, die vermutlich von dem Knochenbrecher stammte, der mich gestern so unsanft gegen die Straßenlaterne geschleudert hatte. Zaghaft fuhr ich mit den Fingerspitzen darüber, zuckte aber sofort zurück, als sich der stechende Schmerz in meine Gliedmaßen bohrte. Ich biss die Zähne zusammen und zog mich an. Es hätte wirklich schlimmer kommen können. Bei dem Gedanken kam mir Katie wieder in den Sinn. Ich hatte sie ja total vergessen. So schnell ich konnte, rannte ich aus dem Bad, schnappte mir ein Sandwich aus dem Kühlschrank und eine Jacke vom Kleiderständer, um anschließend zur nächsten Undergroundstation zu sprinten. Von dort aus fuhr ich mit dem Zug bis nach London Bridge und die restlichen Meter bis zum London Bridge Hospital, in dem ich Katie vermutete, lief ich.

Im Krankenhaus angekommen, brauchte ich eine Weile, um Katies Zimmernummer herauszufinden. Da die diensthabende Krankenschwester der Meinung war, ich sei einfach nicht wichtig genug, um der schwer verletzten Frau auf die Nerven zu gehen. Daraufhin sagte ich ihr, sie könne mich mal, lief ein paar Gänge weiter und fragte meine Frage eine um einiges nettere Krankenschwester noch einmal. Wenige Minuten später hatte ich das Zimmer dann auch schon gefunden. Ich trat mit überschwänglicher Geste durch die Tür und umarmte meine Freundin, so doll, dass sie für einen Moment keine Luft mehr bekam. Obwohl sie einen weißen Verband um die Stirn gewickelt hatte und ihr linker Arm in einem dicken Gips steckte, strallte sie wie ein Honigkuchenpferd, als sie mich sah. "Geht es dir gut? Ich hab schon befürchtet, diese Feiglinge hätten dich einfach mit gehen lassen, da der liebe Herr Dokter auch nix besonderes darüber wusste." Mit einem gequälten Ächzen setzte sie sich auf und drückte mir links und rechts ein Küsschen auf die Wange. Lächelnd stupste ich sie wieder in eine liegende Position zurück und strich ihr sanft über die Wange." Mir geht es ausgezeichnet, du allerdings solltest dich eindeutig noch ein paar Tage hier ausruhen, hast du gehört? ", flüsterte ich ihr ins Ohr. Ihre Augen weiteten sich entsetzt und sie schüttelte energisch den zarten, missgestalteten Kopf. "Aber ich hab deinem Vater doch versprochen, hier auf dich auf zu passen. Ihm wird es bestimmt nicht gefallen, wenn ich dich ganz allein durch diese riesige Stadt laufen lasse." Sie unterstich ihr Gesagtes mit einer effektiven Geste zum Fenster hin. Ich seufzte und setzte mich an den Rand des schmalen Bettes. "Also ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich glaube, mein Dad hat momentan Wichtigeres zu tun, als dir die Hölle heiß zu machen", begann ich. "Mach dir nicht so viel Sorgen um mich. Ich werd die paar Tage schon allein zu recht kommen." Damit war das Thema für mich beendet. Etwa eine halbe Stunde blieb ich noch bei ihr. Wir plauderten ein wenig über die Nachrichten und über das Wetter, bis ich schließlich anmerkte, dass ich meinen Dad noch über gestern informieren musste und Katie mich daraufhin im hohen Bogen rauswarf mit der Aufforderung, dass sofort zu erledigen. Das tat ich auch, allerdings sprach ich ihm nur aufs Band, in der Hoffnung, er würde, sobald er wieder einigermaßen nüchtern war, die Nachrichten abhören. Nachdem ich das erledigt hatte, wusste ich nicht, was ich mit dem Rest des angebrochenen  Tages anstellen sollte. Am Ende fiel mir nichts besseres ein, als eines der vielen Cafés zu besuchen, von denen mir Katie schon Wochen vorher am Telefon vorgeschwärmt hatte. Cupcake's Café war ein kleines, äußerst bescheidenes Restaurant ungefähr zwei Block südlich des Themse gelegen. Wie bereits erwähnt, war die Einrichtung eher schlicht mit einem großen, hellbraunen Tresen und etwa sechs roten Tischen mit je zwei bis vier Stühlen. An den Wänden hingen einige Bilder, die wohl von einem nicht ganz so bekanntem Künstler stammten. Gäste waren so gut wie keine vertreten, wenn man mal von dem älterem Ehepaar am Fenster und dem dunkelhaarigen, jungen Mann am hintersten Tisch absah. Einen Moment verharrte mein Blick bei ihm. Ich runzelte die Stirn. Ein kalter Schauder kroch mir den Rücken hinunter, meine Nackenhaare stellten sich auf und mein gesamter Körper verkrampfte sich. Doch dann war es auch schon wieder vorbei. Als hätte ich mir dieses seltsame Gefühl nur eingebildet. Ich schüttelte den Kopf und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die leicht untersetzte Bedienung, die mir bereits freudestrahlend entgegen kam. Ich lächelte zurück und ließ mich von ihr an einen freien Tisch bringen. Sie verschwand für einen Augenblick, um ein paar Sekunden später mit der Speisekarte wieder zu kommen. Nachdem ich die Karte einige Minuten genaustens studiert hatte, bestellte ich mir einen kleinen Kaffee Latte und ein Stück Erdbeertorte. Die Kellnerin zeigte sich entzückt über meinen Entschluss und eilte sofort in die Küche, um ihn an den "Koch" weiter zu geben. Wenig später kam sie mit meiner Bestellung zurück und wünschte mir guten Appetit. Genüsslich verdrückte ich die Torte und fing mit der Zeit an, mich zu fragen, warum hier eigentlich so wenig Leute aßen. Allein der Kuchen war bereits ein Genuss. Wenn man sich, wie ich, noch einen unglaublich schaumigen Kaffee dazu bestellt hatte, schwebte man förmlich auf Wolke sieben. Ich ließ mir noch ein weiteres Stück Erdbeertorte bringen und schwor mir, hier dringend noch mal her zu kommen.

Es war etwa kurz nach halb drei. Das Café hatte sich etwas mehr gefüllt, die meisten Plätze waren aber immer noch unbelegt. Lediglich eine brünette Frau Anfang vierzig hatte sich noch ein einen der Tische gesellt und schlürfte nun genüsslich an ihrem Cappuccino. Plötzlich klapperte es in der Küche und man hörte den offensichtlich französischen Koch lauthals fluchen. Die Kellnerin flüsterte eine hastige Entschuldigung und tippelte auf ihren winzigen Füßen in Richtung Küche. Seufzend wendete ich mich wieder dem Modemagazin zu, das ich mir beim zweiten Kaffee an der Theke gekauft hatte. Naja, zumindest bis es in der Küche wieder schepperte, diesmal lauter und das junge Mädchen im Kellnerkostüm schreiend aus der Küche gerannt kam. Verdutzt stellte ich den Cafe zurück auf den Tisch, als der Koch kam auch wenig später. Allerdings nicht angerannt, sondern im Maul einer ca. drei Meter großen, grünen, glatzköpfigen Bestie. Brüllend stürmte sie durch die winzige Tür in den Speisesaal und riss sie dabei aus den Angeln. Wie erstarrt betrachtete ich das Spektakel, wagte es aber nicht, wie die anderen Besucher, schreiend das Café zu verlassen. Stattdessen saß ich da, unfähig auch nur einen Muskel zu bewegen. Ausdruckslos betrachtete ich das Monster mit seinen unnatürlich weißen Katzenaugen. Es erwiderte meinen Blick fast sofort. Unangenehm bohrte er sich in meine Seele und riss all das, was mich bisher ausgemacht hatte, aus mir heraus. Stattdessen ließ er nur eine kalte durchscheinende Hülle zurück, die ich unmöglich als die meine hätte bezeichnen können. Schleppend stapfte es auf mich zu. Seine rießigen Zähne blitzten einen Moment weiß auf, dann hob er drohend seine gewaltige Pranke, um mich endgültig ins Jenseits zu befördern.

Seltsamerweise dachte ich in die letzten Wimpernschlägen meines gerade einmal siebzehn Jahre altem Leben nicht an meinen armen Vater, dem man bereits mit dem Verschwinden seiner geliebten Frau das Herz gebrochen hatte und der, wenn er von meinem Ableben erfuhr, sich wahrscheinlich endgültig dem Schicksal hingeben würde. Oder an Katie, die sich mit Sicherheit mehr als nur ein paar Vorwürfe machen würde. Nicht einmal an den Obdachlosen, der mich vor dieser Zukunft so aufs Überdeutliche gewarnt hatte. Nein. Mein allerletzter Gedanke galt tatsächlich dem Jungen, der an dem hinterstem Tisch saß. Obwohl ich ihn nicht kannte, ihn in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Ob er auch aus dem Cafe gerannt war? Ich glaube nicht. Zumindest hatte ich ihn nicht gesehen. Schließlich schaute ich auf. Dem Wesen direkt in die Augen. Und lächelte.

Begabte - Götter in AusbildungWhere stories live. Discover now