Kapitel 9

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Doch wohin war jetzt die Frage. Selbst, wenn ich auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, wo ich jetzt war, blieb immer noch diese Frage. Zur Polizei? Aber was wollte ich denen erzählen? Dass ich von einer großen, grünen Bestie angegriffen worden bin. Und das sich dann eine Organisation, die sich schon seit Urzeiten mit übernatürlichen Wesen beschäftigt, um mich gekümmert und mich, wenn ich nicht geflohen wäre, geblitzdingst hätte? Das glaubt mir doch keiner. Vielleicht sollte ich einfach zurück in Katies Wohnung gehen und weiter machen, wie bisher. Aber sie würden sicher nach mir suchen. Und ich wollte meine Tante nicht in unnötige Gefahr bringen. Sie hatte schon genug abbekommen. Erst mal weg von hier! Das war das Wichtigste. So leise ich konnte, rannte ich die Straße entlang. Doch mit jedem Schritt, den ich machte, hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass mich jemand beobachtete. Auf einmal hörte ich Schritte. Mein Körper spannte sich an, ich blieb stehen und lauschte. Die Schritte verstummten. Stattdessen huschte ein Schatten an mir vorbei. Ich zuckte zurück und konnte gerade noch verhindern, dass ich laut aufschrie. Meine rechte Hand zuckte zu meiner Hüfte, als suchte sie dort nach irgendwas. Doch was immer es war, sie fand es nicht. Mittlerweile zitterte mein ganzer Körper. Wie ich so etwas hasste. Selbst bei einfachen Horrorfilmen hatte ich immer schlotternd da gesessen und es nie länger als zehn Minuten ausgehalten, bevor ich den Fernseher ausschalten musste. Danach hatte ich ewig gebraucht, bis ich mich wieder abreagiert hatte. Aber das hier war noch viel schlimmer. Die Panik stieg in mir an und schnürrte mir die Kehle zu. Wieder huschte ein Schatten an der Hauswand vorbei. Ein Klirren, ein paar Schritte ertönten. Dann machte sich mein Körper selbstständig. Die Starre löste sich und ich huschte in den nächsten Hauseingang. Verängstigt drückte ich meinen Körper in die hinterste Ecke. Hinein in den Schatten, in der Hoffnung, dadurch unsichtbar zu werden, für den oder das, was da kam. 

Und es kam. Die Schritte wurden lauter. Sie waren schleppend. Wie von jemandem, der viel mit sich herum tragen musste. Meine Sinne schärften sich. Jetzt hörte ich Krallen auf dem Boden kratzen, mit jedem Schritt, den das Wesen tat. Hörte Speichel tropfen. Hörte es atmen. Wie es röchelte. Als es plötzlich stehen blieb, hielt ich den Atem an. Nur kein Gräusch von dir geben. Keine Aufmerksamkeit erregen. Du bist gar nicht hier. Hier ist nur der Schatten. Ich flehte innerlich darum, dass es mich nicht bemerkte. Ich wollte leben! Das Wesen streckte seine Nase in die Höhe und schnupperte. Es drehte den Kopf in alle Richtungen und schnupperte weiter. Eine gefühlte Ewigkeit stand es da. Doch dann schleppte es sich endlich weiter. Das Wesen lief an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war mit dunklem Fell überzogen. Bei jeder Bewegung seines großen, schlaksigen Körpers bauschte es sich auf und machte ihn noch etwas größer. 

Ich verharrte noch einige Minuten in der Ecke, um sicher zu gehen, dass er das Monster auch wirklich weg war, dann schlich ich weiter. Mittlerweile war es schon spät geworden und die Sonne stand bereits kurz vor dem Horizont, bereit ihre Schicht für heute zu beenden. Endlich fand ich eine Undergroundstation. Stepney Green hieß sie. Ich war also wirklich mitten im East End gestrandet. Zögerlich betrat ich die Station, immer darauf bedacht, wieder einem dieser Wesen in die Arme zu lauf. Doch es schien alles sicher, also kaufte ich mir eine Fahrkarte und begab mich zum Gleis. Nach wenigen Minuten kam der Zug, ich stieg ein und setzte mich in einen komplett leeren Wagon. Es würde eine Weile dauern, bis ich in Brixton war. Aber entspannen konnte ich mich nicht. Immer wieder hielt der Zug und die Tür zu meinem Wagon öffnete sich. Und jedes Mal dachte ich, eine dieser Bestien würde herein gestürmt kommen. Doch es waren alles samt normale Menschen. In der Victoriastation stieg ich dann in die gleichnamige Line um. Auch der Wagon, den ich diesmal betrat, war fast leer. Nur ein kleiner Mann saß auf einer Bank und laß Zeitung. Ich setzte mich ihm gegenüber und grinste. Der sah schon ganz lustig aus, wie er da saß. Die rießige Zeitung verdeckte beinahe seinen ganzen Körper. Nur die zwei übernatürlich großen Füße lugten darunter hervor.

Ich runzelte die Stirn. Irgendwas störrte mich an dem Anblick. Nicht die unnatürliche Verteilung, sondern eher die oliv scheinenden Hände. Vorsichtig ging ich auf ihn zu und lugte über die Zeitung hinüber. Der kleine, grüne Mann erwiderte meinen Blick sofort und starrte mich genervt an. Mit einem arroganten Unterton in der Stimme sagte er schließlich:"Was denn?! Noch nie einen Kobold beim Zeitungslesen gesehen?" Ich schrie los.

Begabte - Götter in AusbildungWhere stories live. Discover now