17. Kapitel

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"Nein, nein, nein, das kann nicht sein. Alles, nur das nicht. Das ist nicht möglich." Diese drei Sätze waren alles, was ich zu Stande bekam. Meine Stimme klang unheimlich gebrochen und war nur noch ein kaum hörbares Flüstern. Das hier konnte nicht real sein. Es fühlte sich an, wie ein schlechter Traum. Es fehlte nicht mehr viel und ich wäre wieder zusammengebrochen. Wäre ich nicht zu einer Statue erstarrt, die unentwegt die drei Sätze wiederholte, wie eine Schallplatte, die hängen geblieben war, hätte ich wieder den Kontakt zum Boden gesucht. Es schmerzte. Als hätte mir jemand meine Brust aufgeschnitten und würde nun darin versuchen, ein Stück meines Herzens zu entfernen. Es war die reinste Qual und ich konnte es nicht betäuben. Vor mir stand eine riesige Eiskreationen aus den schlimmsten Abschnitten meines kleinen Lebens. Figuren, Gegenstände, Menschen, die ich geliebt und Menschen, die ich gehasst hatte, Menschen, die ich verloren hatte. Es waren Gedanken, die ich für so lange Zeit erfolgreich in die hinterste Ecke meines Kopfes verbannt hatte. Gedanken, die ich vergessen wollte, nicht wahrhaben wollte. Gedanken, die ich mit gutem Grund eingesperrt hatte, verdrängt hatte. Und jetzt, jetzt waren sie alle hier, präsent und bereit, mich zu attackieren. Und im Zentrum? Der Mittelpunkt des Horrors, genau vor mir, bildete eine klare Eisschicht, in der ich mich selbst erkennen konnte, jeden Abschnitt, jedes Detail meiner Selbst. Ich wusste es, tief im Inneren hatte ich gewusst, dass dieser Moment hier eintreten würde. Dass ich dem Ganzen entgegen treten müsste. Mich allem stellen müsste. Ich wusste, was mein Unterbewusstsein mir mit diesem Schaubild zeigen wollte. Ich wusste es nur zu gut. Aber ich war noch nicht soweit. Nur ein wenig Zeit mehr. Ich wollte noch ein bisschen mehr Zeit und dem hier entfliehen. Und so riss ich mich aus der Schockstarre und lief so schnell mich meine Füße trugen aus diesem grausamen Raum, der nur durch mich so grausam wurde. Ich konnte diesem Bild, dass mir gerade geboten wurde, noch nicht gegenüberstehen. Das Ansehen war eine eigene Art der Folter. Es tat zu weh.
Als die Tür hinter mir mit einem lauten Knall zuschlug und daraufhin verschwand, erlangte ich mein Bewusstsein wieder zurück, von dem ich vorher nicht gewusst hatte, dass es fehlte. Und als ich so außerhalb des Raumes stand, konnte ich auch wieder klare Gedanken fassen. Die Erinnerung an diesen magischen Raum wurden samt dessen Inhalt verdrängt. Ich erlangte meine kühle Haltung und Maske zurück und ich wusste sofort, dass niemand sagen könnte, dass ich vor einigen Minuten noch einen Zusammenbruch mit sehr vielen Tränen hatte, oder zumindest käme niemand auch nur auf die Idee, nachzufragen, geschweige denn, überhaupt etwas zu sagen. Mit gerader Haltung fuhr ich mir noch einmal durch Haar und versuchte, meinen Weg zurück zum Gemeinschaftsraum zu finden.
Ohne den genauen Weg zu kennen, irrte ich zum zweiten Mal alleine durch die Gänge und versuchte mich an verschiedene Details zu erinnern, die mir auf meinem Hinweg begegnet waren. Tja, eine Lily wäre jetzt nicht schlecht. Eine Lily, die plötzlich auftaucht, dich anquatscht und direkt so offen ist. Oftmals hatte ich mir schon gewünscht, es auch versucht, offener und fröhlicher zu wirken. Doch ich war eine von der Art, die alle ihre Gefühle, Gedanken und Sorgen hinter einer einzigen Maske versteckt, unfähig, sich anderen Menschen anzuvertrauen und zu öffnen. Ich war eine der Personen, vor denen man eher Angst als Zuneigung und Freundschaft empfand. Ich war auch mal anders, aber das war schon zu lange her. Es hatte sich so viel geändert, so viel war passiert. Und nun war ich hier, in Hogwarts. Lebend. Ich war am Leben.  Aber was war mit dem, was ich zurückgelassen hatte? Was war mit dem einzigen Teil meines Lebens, dass ich liebte? Was war mit Mum? Kam sie zurecht, oder hatte mein werter Vater schon dafür gesorgt, dass sie ihre Entscheidung, mich zu retten, schon bereute? Warum nur? Warum war sie nicht einfach mit mir mitgekommen? Was hielt sie davon ab? 
So in Gedanken versunken, merkte ich gar nicht, dass ich stehen geblieben war. Wo ich war, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Suchend blickte ich mich um. Wonach ich suchte, konnte ich nicht sagen. Vielleicht nach einem Weg, der vor mir zu strahlen beginnt, oder vielleicht auch einfach nach einer Person, die mir den Weg sagen könnte, wobei, dafür müsste ich erst einmal meinen Stolz herunterschlucken und fragen, also das auch eher weniger. Und sowieso war niemand auch nur ansatzweise in der Nähe, warum auch?
Also kreiste ich weiterhin auf der Stelle hin und her, als ich plötzlich einen dunklen Fleck auf dem Boden kauernd erkennen konnte. Ich formte meine Augen zu Schlitzen, in der Hoffnung, dadurch mehr sehen zu können, was eher vergeblich war. Ich wagte mich einen Schritt vorwärts und als ich bemerkte, dass dieser Fleck keine Anstalten machte, sich in irgendeiner Weise zu bewegen, bewegte ich mich schneller voran, bis ich schließlich erkennen konnte, dass dieser Fleck eine Person war, die zusammengekauert an die kalte, steinernde Wand gelehnt saß und den Kopf in den Schoß gelegt hatte. Obwohl ich das Gesicht nicht erkennen konnte, wusste ich anhand der langen blonden Haare doch, um wen es sich handelte: Marlene. Mit zarten Schritten, aus Angst, sie zu erschrecken, ging ich behutsam auf sie zu und legte meine Hand auf ihre Schulter. Fast sofort spürte ich, wie sie mit ganzem Körper zusammenzuckte. Es dauerte noch einige Sekunden, bevor sie langsam den Kopf hob. Auch als sie diesen in meine Richtung erhoben hatte, hielt sie ihre Augen noch etwas länger geschlossen, tiefe Falten bedecken ihre Stirn. Erst, als sie ihre intensiven blauen Augen öffnete, sah ich, was ich vorher nur erahnen konnte: so viel Schmerz und eine große Erschöpfung befand sich in den sonst so schönen Augen. Ich musste mich konzentrieren, vor Schreck nicht sofort zurückzuspringen. Denn, obwohl ich vorher schon erwartet hatte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, hatte ich nicht mit solch einer Intensivität gerechnet. Marlene ging es gar nicht gut und das stand ihr ins Gesicht geschrieben. Statt dem Sprung zurück, setzte ich mich betont langsam auch hin und schaute sie an. Nachdem wir mindestens fünf Minuten so da saßen, traute ich mich schließlich, leise zu fragen:"Was ist los?". Da ich nicht zu viel fragen wollte, beließ ich es bei diesen drei Worten. Erst nach einem kurzen Moment des Schweigens, in dem ich schon dachte, ich würde keine Antwort mehr bekommen, sagte sie mit schwacher und brüchiger Stimme:"Kopfschmerzen". Mehr kam da nicht. Nur dieses eine Wort. Ich wusste lange Zeit nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich fühlte mich nutzlos und wusste nicht, ob ich reden oder schweigen sollte. Schließlich fragte ich sie, ob ich sie zum Krankenflügel bringen sollte. Erleichterung breitete sich bei mir aus, als sie dies dankend bejahte und ich somit endlich helfen konnte. Halb stützend, halb tragend schafften wir es zum Krankenflügel. Auf ein weiches Bett gelegt, ließ ich Marlene einen kurzen Moment alleine, um Madame Pomfrey zu suchen, als sie auch schon auftauchte. Ich musste nur "Marlene" sagen und schon hörte sie mir nicht mehr zu, sondern lief davon und kehrte mit einem Döschen, das ich als Medikamentendöschen identifizierte, zurück. Von dem Inhalt bekam Marlene auch sofort eine Tablette, diese schluckte sie nur widerwillig. Ich stand wiedermal nutzlos da und wusste nicht, was los war. So verlagerte ich mein Gewicht von dem einen Fuß auf den anderen und wartete. Minuten oder Stunden später, ich hatte mein Zeitgefühl verloren, viel Marlenes Blick, nun etwas klarer wirkend, auf mich. Sie sprach jedoch kein Wort, sondern schüttelte nur langsam den Kopf. Stirnrunzeld schaute ich sie an und wurde schließlich von Madame Pomfrey mit einem knappen "Dankeschön" entlassen, während sie irgendwas von "Mikräne" faselte, was wohl als Begründung für mich reichen sollte. Verwirrt und mit noch mehr Fragen, als ich eh schon hatte, irrte ich umher und fand schließlich den Gemeindschaftraum.

Snowangel ( HP ff - Rumtreiberzeit )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt