15. Kapitel

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Meine kleine Hand umfasste den kalten Türgriff und drückte die Tür entschlossen auf. Die zuvor noch vorsichtigen Schritte wurden fest und nachdrücklich und ich betrat den Raum. Mein Körper zuckte kurz zusammen, als die Tür zuschlug. Ich war allein. Genau das, was ich wollte. Und doch breitete sich eine innere Kälte in mir aus. Mein Magen zog sich zusammen. War es wirklich so klug, alleine hier zu sein, in einem Raum, der einfach so auftauchte? Was war das überhaupt für ein Raum? Kannten auch noch Andere diesen Ort? Wieso sollte ein leerer Raum versteckt werden? Ein Raum, indem wirklich nichts als weiße Wände waren? Wände, die fast schon zu weiß waren. Kein einziger Fleck war zu sehen. Eine reine Perfektion. Es war hell und kurz hatte ich den Drang, mir meine Augen zu zu halten, bis ich mich an dieses helle Weiß gewöhnte.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte an der Wand neben mir ein Zettel auf. Ein einziger Zettel. Nichts weiter. Mit neugierigem Blick trat ich näher heran und begann zu lesen:

Der Raum der Wünsche

Dies ist ein Raum, der sich ihren persönlichen Vorlieben und Wünschen anpasst. Mit ihren Gedanken kann also der ganze Raum gestaltet werden.

Was sollte das heißen? Dass ich mir einen viel zu hellen, weißen Raum gewünscht hatte? Sollte dieser Raum meine Gedanken darstellen? Was hatte ich bitte für Gedanken?
Ich schloss meine Augen. Wenn dieser Raum sich wirklich nach meinen Wünschen richtete, warum sollte ich mir dann nicht etwas wünschen und testen, ob das wirklich stimmte?
Was war mein größter Wunsch? Was hatte ich mir schon mein Leben lang gewünscht? Es war so komisch. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich getraut, Wünsche zuzulassen. Mit der Angst, wieder enttäuscht zu werden, hatte ich irgendwann das Träumen und Wünschen zu dem gemacht, was es war. Ein Traum, ein Wunsch. Etwas, womit sich ein kleines Kind friedlich und beruhigt in den Schlaf wiegt. Etwas, das niemals wahr werden würde. Und jetzt auf einmal hatte ich die Möglichkeit, einen Wunsch wahr werden zu lassen? War es dämlich von mir, skeptisch zu sein? Oder war das berechtigt? Ich war mir da nicht so sicher. Ich hatte Angst davor, meinen größten Wunsch zu zeigen, hatte Angst, eine weitere Enttäuschung zu erleben. Sollte ich es da also wagen? Und obwohl ich mir das Wünschen immer verboten hatte, wusste ich doch direkt, was mein größter Wunsch war: eine 2. Chance. Ein Neuanfang. Die Möglichkeit, die Zeit zurückzudrehen. Die Möglichkeit, dass Max nicht tot wäre, sondern ein glückliches Leben führen würde, mit all seinen Freunden. Die Möglichkeit, die Schuld, die seit diesem einem Tag auf meinen Schultern lastete, loszuwerden. Diese Schuld niemals zu haben. Und die Möglichkeit, meine Mutter mitzunehmen, weg von diesem schrecklichen Mann mit der verblendeten Sichtweise von Richtig und Falsch. Denn Schuld und Ungewissheit nagten an mir und ich konnte nichts tun. Also ja, das war mein größter Wunsch, aber niemand, auch nicht der Raum der Wünsche könnte mir diesen Wunsch je erfüllen. Das war unmöglich. Was also konnte ich mir wünschen? Dass mein Vater mich akzeptierte und der Albtraum endlich ein Ende hatte? Nur ein weiterer Traum, der mir nur immer wieder mal ein Messer in den Rücken rammte und es dabei beließ.
Ich wollte mich einfach nur einmal frei fühlen. Ohne Schuld, Ungewissheit, Angst. Ohne jegliche Gedanken zum Grübeln, an meinen Vater, meine Familie, mein Leben. Ich wollte nur einmal im Hier und Jetzt leben. Wollte mich leicht fühlen. Wie ein ganz normales Mädchen, dass zur Schule geht, um eine Ausbildung zu erhalten und einen Beruf zu erlernen. Nicht, um sich vor dem eigenen Vater zu verstecken und zu schützen.
Da war sie wieder, diese Kälte in mir. Die Angst. Die gewaltige Wut. Und ich ließ sie diesmal zu. Unterdrückte sie nicht. Ich ließ sie durch meine Finger gleiten und ausbrechen. Und plötzlich fühlte ich mich frei. Die kleinen Schneeflocken strömten munter aus meinen Händen und ließen sich auf verschiedenen Plätzen auf den Boden fallen. Ruhig und elegant formten sie verschiedene Formen und Figuren, die ich mir ausdachte, ohne es zu wissen. Ich war vertieft und wie in einem Traum gefangen. Ich formte mir meine eigene Welt, in der es keine Kontrolle mehr geben musste. Eine Welt, in der ich meine Gefühle zeigen durfte und konnte. Eine Welt, in der ich frei war, in der ich ich sein konnte. Wie ich wirklich war. In diesem Augenblick, in dem ich meine Kontrolle losließ, fühlte ich mich vollkommen. Ich war frei von Schuld und Angst. Ich war frei von den Gefühlen, die ich so lange unterdrückt hatte. Ich konnte endlich wieder einmal atmen. Die Luft in meinen Lungen fühlen. Für einen Augenblick war ich endlich einmal am Leben. Ich fühlte mich auf seltsame Weise zurückversetzt, zurückversetzt in mein jüngeres Ich. Das jüngere Ich, das einfach nur ein kleines, naives Kind gewesen war, glücklich und sorgenfrei. Und obwohl eine kleine Stimme in meinem Kopf mich davor warnte, sich weiter so sorglos zu verhalten, ließ ich mich weiter von meiner wunderschönen Magie treiben. Wie in Trance formte ich weiter Gestalten, ohne sie wirklich zu sehen. Die kleine Flamme der Hoffnung und des Glücks wuchs mit jeder neuen Schneeflocke, die ohne meine Kontrolle erwachte. Diese Flamme verbrannte immer weiter diese kleine, vernünftige Stimme, die mich noch retten wollte. Denn eigentlich war es klar, dass das hier irgendwann enden musste und es mich nur weiter verletzten würde. Eigentlich war mir bewusst, weshalb ich es nie zugelassen hatte, die Kontrolle zu verlieren. Aber in diesem Moment rückten all die Warnungen und schlechten Erinnerungen in den Hintergrund und ich wusste, dass sie nur Anlauf nahmen, um später nur noch mächtiger zurückzukommen und mich weiter zu verletzen. Aber solang sie so weit weg schienen, war ich nicht bereit, wieder zur Besinnung zu kommen. Nicht bereit, dieses ausgewogene Gefühl von Freiheit und Glück loszulassen. So fest, wie ich nur konnte, hielt ich daran fest und ließ mich von diesem Gefühl treiben. Ich vergaß alles. Alles, was so schwer auf mir lastete. Ich hatte nur Augen für diese wunderschönen Schneeflocken, deren Ursprung ich war. Ich hatte so viel Macht. Und dieser Macht war so viel verschuldet. Und auch, wenn diese Macht der Grund war, dass mein eigener Vater mich töten wollte, fing ich an, sie zu lieben und schwor mir, sie immer zu beschützen, denn sie war ein Teil von mir. Ein Teil, den ich nie verlieren wollte und würde.

Snowangel ( HP ff - Rumtreiberzeit )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt