Kapitel 10 - Außer Kontrolle

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Am nächsten Morgen fühlte ich mich irgendwie anders als sonst. Bis auf die neuerlich magische Kontrolle über das Wasser, war noch etwas anders. Allerdings konnte ich dieses Etwas nicht konkret beschreiben. Es war eine Art Vorahnung: ich wusste genau, dass irgendetwas passieren würde, aber was das letztendlich sein sollte, blieb im Dunkeln vor mir verborgen.

Zum Glück hatte ich heute die einmalige Chance ins Bad zu gehen, ohne Stunden auf Zoey warten zu müssen – die schlief nämlich noch. Ihre Zimmertür war geschlossen und kein Laut drang zu mir hindurch. Was sehr ungewöhnlich für sie war, wenn ich genauer darüber nachdachte. Sicherheitshalber klopfte ich mal dagegen.

»Hör auf mit dem verdammten Lärm!«, brüllte meine Schwester kurz darauf, und ich zuckte unwillkürlich zusammen.

Selbst wenn sie wütend war – was nicht allzu selten vorkam –, hatte sie nie einen so bösartigen Tonfall drauf. Das gerade klang aber danach, als wollte sie mich umbringen.

»Zoey, ist alles in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig, was ich im Nachhinein lieber nicht hätte tun sollen. Ich musste an das Sprichwort denken, welches besagte, dass man im Nachhinein immer schlauer sei.

»Halt die Klappe, du verdammte Schlampe!«, keifte Zoey wie ein wildgewordenes Tier. Dann knallte etwas Schweres gegen die Tür. Das Holz erzitterte. Langsam trat ich Schritt für Schritt zurück. Mir schlug das Herz wild gegen die Brust.

Sonst nahm ich Zoeys lebhafte Gefühlsausbrüche eher nicht für voll, aber das hier klang so gar nicht nach ihr. Als wäre sie durch eine Furie ersetzt worden. Und damit meinte ich die Fabelwesen aus der griechischen Mythologie – die echten –, denn mittlerweile glaubte ich leider an Dergleichen. Und gab es wirklich solche bösartigen Geschöpfe, dann wollte ich lieber keinem zu nahe treten. Mit denen war wahrscheinlich nicht gut Kirschenessen.

»Mom?«, rief ich eine Spur panischer, als erneut etwas gegen die Tür flog und den Boden unter mir leicht erbeben ließ.

Ich bekam keine Antwort, nur ein tiefes, wildes Knurren, das von Zoey herrührte.

»Mom?!«, versuchte ich es zum wiederholten Mal. Diesmal lauter.

Doch keine Antwort. Stille. Totenstille, um genau zu sein. Auch aus Zoeys Zimmer war schlagartig kein Mucks mehr zu hören.

Bevor ich mir aber weiter Gedanken darüber machen konnte, wo Mom nur steckte und was bloß in meine Schwester gefahren war, krachte etwas mit einer ungeheuren Geschwindigkeit mitten durch die Tür, sodass das Holz in alle Richtungen davonsplitterte.

Ich zuckte zusammen. Gleichzeitig keuchte ich auf und hielt mir schützend einen Arm vor das Gesicht.

Als wieder Ruhe einkehrte, wagte ich einen Blick: Die Tür hing nur noch zerfetzt an den Angeln. Zoey trat mir vor ihren kläglichen Überresten gegenüber. Die dunklen Haare flogen wild um ihr Gesicht, die Kleidung zerrissen und mit Schmutz verschmiert, ebenso ihre Haut.

Am schlimmsten waren jedoch ihr Blick und die Haltung. Sie funkelte mich mit irren Augen an, als wäre ihr jeglicher klarer Verstand abhandengekommen. Breitbeinig baute sie sich mit zu Krallen verformten Fingern vor mir auf. Sprungbereit. Als wartete sie nur auf eine Regung meinerseits, damit sie mich angreifen konnte.

Entsetzt schnappte ich nach Luft, die trocken und staubig auf meiner Zunge lag. Vor Angst schnürte es mir die Kehle zu. Was zur Hölle war mit meiner Schwester passiert?

»Zoey?«, wisperte ich, so leise, dass man es kaum verstand.

Ein furchtbares Lächeln verzog ihr eigentlich hübsches Gesicht und ließ es wie eine Fratze aussehen. »Ich sagte: Halt die Klappe!«, fauchte sie, dann machte sie ohne Vorwarnung einen Satz auf mich zu.

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now