Kapitel 30 - Funkstille

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Kaycie

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Ich konnte mich nur an Wasser erinnern. An sehr viel Wasser. Es kam plötzlich von irgendwoher und warf Zoey, begleitet von einer starken Druckwelle, vom Stuhl. Augenblicklich ließ das warme Gefühl in meinem Bauch nach.

Triefend und nach Luft schnappend lag Zoey auf dem Boden. Mom stieß einen erschrockenen Laut aus. Seltsamerweise stand ich als einzige auf dem Trockenen und starrte auf das Wasser, das sich genauso rasch zurückzog, wie es aufgetaucht war. Es schien durch die Fliesen zu versickern, obwohl das jedem Gesetz der Natur widersprach. Dennoch sah ich es geradezu magisch verschwinden, wo eben noch eine Flutwelle die Küche überschwemmt hatte.

»Bist du völlig übergeschnappt?«, keifte Zoey, als sie ihre Stimme wieder fand. Sie glich einem begossenen Pudel, dicke Tropfen klatschten von den durchnässten Haaren zu ihren Füßen.

Der Esstisch und die Arbeitsflächen hinter meiner Schwester sahen nicht besser aus: Besteck, Gewürze, Kochutensilien und Lebensmittel lagen verstreut herum. Das Chaos triefte allerdings nicht mehr – im Gegensatz zu Zoey. Nur sie umgab eine Pfütze, von dem Wasser, das aus ihren Haaren und der Kleidung tropfte. Wütend funkelte sie mich an und wollte schon eine Retourkutsche anzetteln, da trat Mom zwischen uns und bedachte sowohl Zoey als auch mich mit einem vernichtenden Blick. Dabei rettete sie wohl die Küche vor weitaus größerem Unheil. Unsere Kräfte hätten den Raum höchstwahrscheinlich in Schutt und Asche gelegt.

Wie ich, war Mom von den Wassermassen verschont geblieben. Ich zermarterte mir das Hirn, wie so viel davon aus dem Nichts auftauchen und wieder ins Nichts entrinnen konnte. Da war eindeutig Magie im Spiel, anders ließ sich das nicht erklären. »Hört auf, verdammt nochmal!«, sprach Mom ein Machtwort. Schuldbewusst zuckte ich zusammen. »Was ist bloß in euch gefahren? So habe ich euch nicht erzogen! Benehmt euch in meinem Haus gefälligst zivilisiert, sonst werfe ich euch beide raus!« Schwer atmend kämpfte Mom mit den Tränen, die ich in ihren Augen glänzen sah.

»Es tut mir leid«, krächzte ich schwach. Ich wusste selbst nicht, was in mich gefahren war. Geschweige denn, wo sich das Wasser nun befand.

Mom nickte und fuhr sich durch die Haare, sie besah sich das Ausmaß der Zerstörung, dann fixierte sie Zoey. Die wrang sich wutschnaubend die Kleidung aus. Offensichtlich dachte sie nicht daran, sich zu entschuldigen. Als sie Moms Blick bemerkte, schnaufte sie erbost auf und stapfte aus der Küche und murmelte Schimpfwörter vor sich hin, die ich gar nicht verstehen wollte.

Verzweifelt warf Mom die Arme in die Luft. »Was ist nur los mit ihr? Das wird ja immer schlimmer!«

Ich half ihr beim Aufräumen, während sich Zoey für den restlichen Abend in ihr Zimmer verschanzte.

Der Himmel war am nächsten Morgen klar und strahlend blau. Ich hörte idyllisches Vogelgezwitscher, vorbeifahrende Autos und Menschen, die sich auf der Straße freundlich grüßten. Ein sanftes Lüftchen wehte zum geöffneten Fenster herein und brachte eine angenehm warme, salzige Brise vom Meer her ins Haus. Ein perfekter Tag, nachdem der letzte so katastrophal geendet hatte. Zumindest für mich. Gähnend stapfte ich die Treppen nach unten. Heute war Freitag. Eigentlich sollte ich mich wegen des anstehenden Wochenendes freuen, jedoch konnte ich nur an eines denken: Zoeys und Oscars Kuss, und ihr Wissen über mein Geheimnis, das offiziell keines mehr war.

Das Frühstück verlief äußerst schweigsam unter giftigen, nonverbalen Anschuldigungen. Zoey ignorierte mich, und ich hütete meine Zunge ebenfalls in ihrer Gegenwart. Mom seufzte zwar tief, als wollte sie uns mitteilen, dass wir uns doch vertragen sollten, sagte aber kein Wort.

In der Schule schrieb ich meinen Test nach, den ich natürlich verhaute, weil ich wegen Zoey nicht zum Lernen gekommen war. Wie Lehrer nun einmal waren, sollte ich es wenigstens versuchen. Letztendlich hätte ich mir gleich null Punkte eintragen lassen können. Danach verfolgte ich den Unterricht eher desinteressiert und versank in meinen Grübeleien. Das Gerede meiner Kursteilnehmer und Lehrer spielte sich zwischenzeitlich im Hintergrund ab.

Ich gab mein Bestes Oscar aus dem Weg zu gehen, was keine leichte Angelegenheit darstellte, bei den ständigen Blicken, die er mir zuwarf. Sein Gesichtsausdruck ähnelte mehr denn je einem Hundewelpen, und ich biss mir kräftig auf die Innenseite der Wange, um der Versuchung zu widerstehen, auch nur länger als nötig in seine Richtung zu schauen. Ich wollte ihn schmoren lassen, schließlich hatte er mich genauso hintergangen. Ihm war nicht aufgefallen, dass Zoey sich als mich ausgab. So schnell konnte und wollte ich ihm diesen Ausrutscher nicht verzeihen.

Beim ersten Läuten der Schulglocke sprang ich auf und eilte aus dem Raum. Mich zog es zur Insel. Ich sehnte mich nach Ruhe und den endlosen Tiefen des Ozeans. Da packte mich jemand fest am Arm, sodass ich gezwungen war, mitten im Gang stehen zu bleiben. Genervt entriss ich meinem Widersacher – es war Oscar – meinen Ärmel und wirbelte zu ihm herum. »Was willst du?« Ich legte die Gesamtheit meiner Wut in diese drei Worte. Er sollte spüren, dass nichts in Ordnung war. Abwehrend verschränkte ich die Arme vor der Brust und tippte ungeduldig mit einem Fuß auf den Boden, während sich Oscar sichtlich nervös durch die Haare strich. Mehrmals kaute er auf seiner Unterlippe herum, bevor er zu Sprechen ansetzte. Ich ignorierte den Drang, ihm das durch einen Kuss abzugewöhnen.

»Hör mal, Kaycie. Es war nicht so, wie du denkst ...«, stammelte er. Sein Augenmerk galt den hässlichen, gelben Fliesen, die die Gänge der Schule zierten.

»Was denke ich denn, deiner Meinung nach?«, fragte ich, um einen gefassten Ton bemüht.

»Ich wusste nicht, dass es Zoey war!« Er warf die Arme in die Luft.

Ich hob eine Augenbraue. »Du hast nicht gemerkt, dass du mit der falschen Person zusammen warst?«

Ertappt zuckte er zusammen. »Nein, so war das nicht ... Ich wusste, dass es Zoey war, kurz bevor sie ...« Er schien keinen richtigen Satz mehr bilden zu können, so sehr verhaspelte er sich.

Ich sah ihn skeptisch an. »Also wusstest du es doch! Warum hast du es dann zugelassen?« Meine Stimme zitterte mittlerweile leicht.

»Ich ... ich ...« Resigniert seufzte er auf. Und ich begriff, dass er es nicht erklären konnte.

Das machte mich umso wütender. Mein Entschluss verfestigte sich. »Lass mich einfach in Ruhe. Es hat keinen Sinn mehr«, flüsterte ich warnend, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und versuchte so würdevoll es mir möglich war, die Schule zu verlassen, bevor ich in Tränen ausbrach.

Den verbliebenen Nachmittag dümpelte ich Unterwasser und am Mondsee herum. Wenn jemand einem das Herz brechen konnte, hatte Oscar es nun bei mir geschafft. Ich fühlte mich leer. Nutzlos. Für den Rest meines Lebens wollte ich mich nie wieder in die Nähe irgendeines Menschen begeben. Das Wasser spendete mir Trost. Meine seelischen Wunden vermochte es nicht gänzlich zu heilen, die körperliche, die mir Zoey zugefügt hatte, hingegen schon. Wie durch Zauberhand löste sie sich auf und hinterließ nichts als unversehrte Haut.

Träge glitt ich Unterwasser dahin. Fischschwärme in leuchtenden Farben zogen an mir vorbei – ich bemerkte sie nicht. Golden schimmernde Sonnenstrahlen schienen durch die Oberfläche und brachten den Sand am Meeresgrund sowie die Korallen zum Glitzern – ich merkte es nicht. Die farbenprächtige unterirdische Welt kam mir nun weniger magisch und schön vor. Ich sehnte mich nach etwas anderem. Doch das konnte ich nicht länger haben. Es war vorbei, und ließ sich nicht rückgängig machen, obwohl mir das Herz blutete. Ich musste das akzeptieren. Es konnte nicht weitergehen, wenn Zoey stets zwischen uns stand. Sei es nur in meinen Gedanken. Es würde nur erzwungen sein, und das war das Letzte, was ich wollte.

Lange starrte ich auf das Meer hinaus, das sanft gegen den Strand der Insel brandete und meinen Fischschwanz umspülte. Ich sah zu, wie sich die Sonne dem Horizont näherte, während die Luft abkühlte und der Himmel allmählich dunkler wurde.

Mondsüchtig | VerwandlungWhere stories live. Discover now